Einleitung: Dem erst kurz zuvor ernannten Kommissarischen Leiter der Nationalbibliothek in Wien, Dr. Paul Heigl, riss etwa einen Monat nach dem „Anschluss“ die Geduld. Er war in diesem Fall nicht unglücklich über das von ihm übernommene Personal in der Bibliothek. Schuld waren diesmal die Medien, nicht aber die gleichgeschalteten in der „Ostmark“. Vielmehr war der Grund eine „nur der zum Überdruß geübten Brunnenvergiftung dienende böswillige Falschmeldung“, also eine „Zeitungsente“ der etwas anderen Art. Und darüber hinaus lästige Telegramme aus den USA, hinter denen wohl die „üblichen Verdächtigen“, d.h. jüdische Emigranten, standen, wie Heigl mutmaßte.
Am 23. April 1938 hatte der Wiener Korrespondent der Nachrichtenagentur Associated Press in die ganze Welt berichtet bzw. – so Heigl – „für gut befunden, ihren Lesern das Märchen aufzutischen, dass aus der Wiener Nationalbibliothek Bücher jüdischer, marxistischer, freimaurerischer und ähnlicher Skribenten entfernt und sogar verbrannt werden sollen“. Anderntags stand die Meldung aus Wien auf Seite 1 solch renommierter Blätter wie The New York Times und der Washington Post.
Natürlich stimmte diese Meldung so nicht, aber sie löste für die Dauer von ca. einer Woche im April 1938 eine Lawine von Entwicklungen aus, die zu Ausschreitungen und Schein-Bücherverbrennungen am Campus einer kleinen Universität im US-Bundesstaat Massachusetts sowie einer konzertierten, aber letztlich abgebrochenen Aktion unter mehr als eineinhalb Dutzend führender Universitätsbibliotheken in den USA, von der Library of Congress ganz zu schweigen, führte, die die so genannten „doomed books“ in der Nationalbibliothek in Wien durch Kauf zu „retten“ versuchten. …