Thomas Varkonyi: „Ich bin kein Pessimist, obwohl …“ Thomas Várkonyi im Gespräch mit Gábor Kapitány über die Transformation des ungarischen Mediensystems

Einleitung:

Thomas Várkonyi: „Wie hat sich aus Ihrer Sicht die mediale Situation in Ungarn, die ungarische Öffentlichkeit, die Mediennutzung und deren wissenschaftliche Analyse auf historischem und/oder anthropologischem Gebiet seit dem Systemwechsel 1989/90 entwickelt?“

Gábor Kapitány: „Die Mediensituation in Ungarn hat sich vor dem Systemwechsel 1989 wesentlich von dem unterschieden, was für Westeuropa bzw. andere Teile der Welt im allgemeinen typisch war. Das sozialistische Lager hatte eine eigene Medienstruktur, einen eigenen Stil, eine eigene Thematik, und obwohl innerhalb dieses Lagers die ungarische die am ehesten offene und am ehesten den westlichen Medien vergleichbare war, war sie doch vom Typus her ganz verschieden. Nur um auf die evidentesten Unterschiede hinzuweisen: So wäre der vom ideologischen Standpunkt monolithische Charakter zu erwähnen; obwohl es in den 80er Jahren Diskussionssendungen gab, die unterschiedliche Ansichten zu Wort kommen ließen und in einigen Zeitungen von der offiziellen Meinung divergierende Standpunkte erscheinen durften, musste doch auch in diesen Medien die Hegemonie der sozialistischen Ideologie gesichert sein; und dann gab es noch weitere Abweichungen, die ziemlich lautstarke Rolle der Kultur oder die bedeutende Rolle der Produktionsereignisse in den Nachrichten. Daher bedeutete der Systemwechsel eine wesentliche Veränderung im gesamten Themenkreis der Medien, in ihrem Stil, in der verwendeten Symbolik. Außer den erwähnten (das heißt neben der politisch-ideologischen Pluralisierung und der Zurückdrängung der Kultursendungen und der Produktionsnachrichten) waren sehr augenfällige Veränderungen zum Beispiel das Eindringen der durch die Medien repräsentierten Öffentlichkeit in die Intimsphäre der Bevölkerung, die showcharakterliche Verschiebung der Inhalte, sowohl auf dem Gebiet der Kultur als auch auf dem Gebiet der Politik und das Auftreten des damit einhergehenden grelleren Umgangstons. Der Systemwechsel bedeutete gleichzeitig auch einen Generationenwechsel, auch auf dem Gebiet der Medien, da die neue Generation bereits durch und auf die westlichen Medien hin sozialisiert worden ist und deren Vertretung übernommen hat. Eine wesentliche Veränderung ist auch die Modifikation der medialen Strukturen, in erster Linie in Richtung eines marktwirtschaftlichen Typus. Es erschienen die kommerziellen Sender, die davor natürlich nicht präsent waren. Fernsehen und Radio bestanden im Wesentlichen aus zwei bis drei staatlichen Kanälen und nachdem das Überleben dieser Sender vom Verhältnis Angebot und Nachfrage abhängig ist, muss man sie offensichtlich ganz anders betreiben als die früheren staatlichen Sender. Diese Veränderungen resultierten in der Ausformung einer derartigen Sendungsstruktur und eines derartigen Sendungsstils, dass daraufhin zumindest die zwei größten kommerziellen Sender die staatlichen Sender überholten, daher wurden diese dazu gezwungen, ihren Stil zu verändern und immer größere Zugeständnisse in Richtung des marktwirtschaftlichen Typus zu machen. Es versteht sich auch von selbst, dass, als das Land von dem Einparteiensystem der so genannten weichen Diktatur in das Mehrparteiensystem der parlamentarischen Demokratie gewechselt hat, sich das Mediensystem pluralisiert hat und dort ebenfalls die Vertreter der verschiedenen Parteien und Richtungen erschienen sind.“