Einleitung: Ich hin 1917 geboren. Journalist wurde ich im Jahre 1946. Ich war also bereits 29 Jahre alt, als ich einen für mich ganz neuen Beruf ergriff. Sechs Jahre meines Lebens, man sagt, daß cs die besten seien, hatte ich unwiderruflich sinnlos, dumpf und qualvoll bei der Deutschen Wehrmacht zubringen müssen, sechs Jahre, die mich (und meine ganze Generation) von der Welt abschirmten. Ich habe nichts für meinen zukünftigen Beruf gelernt, das wenige, was man uns zur Matura beibrachte, hatte ich längst vergessen.
Natürlich ging es allen Journalisten jener Tage, sofern sie zwischen 1912 und 1925 geboren waren, genauso. Was wir gemeinsam hatten, war der glühende Wunsch, alles und jedes nachzuholen, was sich in jener seit 1938 verschlossenen Well ereignet hatte – nicht so sehr politisch, sondern kulturell, intellektualistisch und sozial. Es galt also, alles das nachzuvollziehen, es sich geistig anzueignen: Bücher und Autoren, deren Namen wir noch nie gehört hatten, etwa Hemingway, etwa Steinbeck, etwa Sartre und Anouilh, wir wollten alle Filme sehen, die seit 1938 gedreht worden waren, alle Theaterstücke zumindest lesen, die das NS-Rcgimc verboten hatte, wir wollten die Großen des Jazz hören, von Armstrong über Tatum und Count Basic bis zu Glenn Miller – es gab nichts, was uns nicht interessierte.
Es dauerte etwa zwei Jahre, bis wir jungen Journalisten das Gefühl hatten, wir hätten jene verlorenen Jahre, sofernc das überhaupt möglich war, im großen und ganzen aufgeholt und so gut cs ging cingearbcitcl in ein neues Weltbild. Das war etwa 1948 der Fall – und deshalb scheint mir dieses Jahr auch tatsächlich, vom Standpunkt der neuen Generation der Nachkriegsjournalisten aus gesehen, das erste „Normaljahr“ – und daher stammt auch der Titel.
Es gibt freilich auch noch einen zweiten Grund, das Jahr 1948 zum ersten „Normaljahr“ zu erheben. Seit der Währungsreform im Spätherbst 1947 war die heimische Wirtschaft in zaghafter Aufwärtsentwicklung begriffen, konnten sich Österreich weit Zeitungen, die nicht von einer der vier Besatzungsmächte herausgegeben wurden, halten, konnten neue Zeitungen erscheinen, weil die quälende Papierknappheit verschwand eine Tageszeitung mit acht Seiten Umfang, noch 1947 ein „Luxus“, wurde nun zur Regel; auch gab es bescheidene Ansätze zu einem Anzeigengeschäft, was wiederum die finanzielle Beweglichkeit der Verlage steigerte.
Es war nach 1945 außerordentlich einfach, Reporter bei einer Zeitung zu werden. Ich selbst habe bei der von den Sowjets herausgegebenen Österreichischen Zeitung ein Kurzgeschichten-Preisausschreiben gewonnen und wurde sofort als Reporter engagiert.
Beim Wiener Kurier, den die Amerikaner herausgaben, bei der britischen Weltpresse und bei der französischen Welt am Abend – Welt am Montag, war es, wie mir Kollegen berichteten, nicht minder einfach gewesen.
Eineinhalb Jahre arbeitete ich als Reporter in der sowjetischen Zeitung, Zeit genug, um mir über den in höchster Blüte stehenden Stalinismus ein Bild machen zu können. Tag für Tag erschienen in den sowjetischen Zeitungen ritualisierte Hymnen an den „Genossen Stalin, Sonne des Bolschewismus“ (wörtliches, tagtäglich zu lesendes Zitat). Dann beteten die Stoßarbeiter und Stoßarbeiterinnen, die Kolchosbäuerinnen und Kolchosbauern, die Traktoristinnen und Traktorführer den Genossen Stalin an und versprachen, ihre Arbeitsleistung freiwillig zu erhöhen. Wie links man auch stehen, wie sehr man auch über den Sowjetkommunismus lächeln mochte – cs war nicht auszuhalten. Den sowjetischen Redakteuren, fast durchwegs Leningrader Juden, die dank ihres Jiddisch sehr gut deutsch konnten und reizende, kultivierte Leute waren, schien das gar nichts auszumachen. …