Eine Antwort von Ulrich Saxer Das Altern der neuen Paradigmen, Daten und Medien

Einleitung
Th. W. Adorno hat vor gut dreißig Jahren ein Essay mit dem Titel Das Altern der Neuen Musik veröffentlicht und dieses darin gesehen, daß deren ursprünglicher Impuls verebbt und sie dadurch in Widerspruch zu sich selber geraten sei. Der Vorgang ist auch bei wissenschaftlichen Systemen immer wieder erkennbar, wenn ein Paradigma sich erschöpft, weil seine Aussagekraft ausgelotet ist oder sein Potential für die Beantwortung dringender oder veränderter Fragen einfach nicht ausreicht. Und in einem solchen Fall wäre eben die Besinnung auf die Paradigmengeschichte des eigenen Faches von gutem, wie vor allem der diskontinuierlich-repetitive Verlauf der Rezeptionsforschung zur Genüge verrät. Von hoher Bedeutung wäre insbesondere die Rekonstruktion früherer Zyklen, an denen einsichtig würde, mit welchen Argumentationen die jeweilige Mainstream-Publizistikwissenschaft welche Paradigmen verteidigte oder preisgab. Vielleicht ließe sich auf dieser Grundlage die nächste Phase der Wirkungsforschung, in der diese wieder von der These der Medienohnmacht ausgeht, leichter prognostizieren.

Denn der Historiker ist bekanntlich „ein rückwärts gekehrter Prophet“ (Fr. Schlegel). Aus der Geschichte des eigenen Faches ließe sich dementsprechend sehr viel lernen, auch über das Altern jeweils neuer Medien. Zwar ist die Rieplsche Regel, daß neue Kommunikationstechniken alte nicht verdrängen, aber zur Funktionsanpassung nötigen, allmählich publizistikwissenschaftliches Allgemeinwissen geworden, aber trotzdem war die Reaktion des Faches auf das Heraufkommen der sog. Neuen Medien nicht besonders überzeugend. Mit ein Grund ist der Umstand, daß um Neues als neu zu erkennen, man um das Alte wissen muß. Bessere Kenntnisse der damaligen gesellschaftlichen Auswirkungen des Buchdrucks oder, jüngst, von Radio und Fernsehen hätten wohl auch der heutigen Begleitforschung anläßlich der Einführung neuer Medien Anregungen vermitteln können, die ihren Untersuchungsanlagen zugute gekommen wären. Je mehr Makroperspektiven endlich Eingang in die Publizistikwissenschaft finden und – glücklicherweise – auch dank zunehmender Einsicht des Faches in die Komplexität der mit publizistischer Kommunikation verbundenen Prozesse, desto schwerer fällt es ja, zu generalisierenden Aussagen zu kommen und drängt sich als methodischer Königsweg der Vergleich auf, und zwar eben nicht nur derjenige zwischen räumlich, sondern auch zwischen zeitlich verschiedenen Systemen. Hier verdienen im übrigen die heutigen Entwicklungsländer besondere Beachtung, als sie mit ihrer maßgeblich auch durch ihre Medienimporte „komprimierten“ Geschichte in einem andern räumlichen Kontext Kommunikationshistorie in dichtester Form nach-, und in der Analphabetismusproblematik vielleicht vorholen. …