Walter Hömberg: Die kunstreichen Brüder oder Über die Zukunft der Kommunikationsgeschichte Notizen zu einer Rundfrage

Einleitung

„Es war einmal ein Marin, der hatte vier Söhne. Kaum waren sie herangewachsen, da sprach er zu ihnen: „Liebe Kinder, ihr müßt jetzt hinaus in die weite Welt. Ich habe nichts, das ich euch geben könnte. Macht euch auf und geht in die Fremde, lernt ein Handwerk und seht, wie ihr euch durchschlagt.“ Als sie nach vier Jahren heimkehrten, hatte jeder eine gründliche Lehre durchgemacht; der eine als Jäger, der andere als Schneider, als Sterngucker der dritte, der vierte als Dieb. Es dauerte nicht lange, da konnten sie ihre Künste unter Beweis stellen: Die Königstochter war von einem Drachen entführt worden. Die vier Brüder besteigen ein Schiff, und schon bald erblickt der Sterngucker in seinem Fernrohr die Gesuchte: Sie sitzt auf einem Felsen im Meer, den Kopf des schlafenden Drachen auf ihrem Schoß. Dem Dieb gelingt es, die Königstochter unter dem Drachen weg zu stehlen. Als der Drache erwacht, verfolgt er wutschnaubend das Schiff. Der Jäger trifft ihn mitten ins Herz – doch das herabfallende Untier zerschmettert das Schiff. Da herrscht große Not, aber der Schneider flickt mit seiner wunderbaren Nadel alle Trümmer zusammen. Bald kann der König seine Tochter wieder in die Arme schließen, und es herrscht große Freude …“

An dieses alte, einst von den Grimms aufgeschriebene Märchen mußte ich denken, als der Postbote vor einigen Monaten den Berichtsband des Wiener Symposiums „Wege zur Kommunikationsgeschichte“ ins Haus brachte. Literatur- und Theaterwissenschaftler, Politologen und Soziologen, Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler, Volks- und Betriebswirte, ja sogar richtige Historiker zeigen darin, was sie gelernt haben. Wie bei den kunstreichen Brüdern geht es nicht ohne Prioritätsstreitigkeiten ab, aber schließlich setzt sich doch die Einsicht durch, daß die Rettung der Königstochter nur gemeinsam gelingen kann.

Der Band ist wahrlich kein Kleinod der Buchkunst, aber er ist eine wissenschaftliche Fundgrube. Jener Wiener Kongreß, der hier dokumentiert ist, war für die Teilnehmer nur in Ausschnitten wahrzunehmen; erst im Medium Buch erschließt sich das Nebeneinander der Arbeitsgruppen für jedermann, der lesen kann. „Was lernt uns das?“ pflegen wissensdurstige Nordlichter zu fragen. Die Wiener Beiträger „lernen“ uns, so meine ich dreierlei:

Erstens: Die Fachdiskussionen der letzten Jahrzehnte dokumentieren, daß auch auf dem Wege zur Kommunikationstheorie Fortschritte zu erkennen sind. Von den Schultern zeitgenössischer Theoretiker lassen sich auch Entwicklungen der Vergangenheit klarer erkennen. Allerdings: Gerade der Kommunikationshistoriker weiß, daß manche der Theoriekonzepte, die als jeweils neueste Kreation auf den Laufsteg geschickt werden, so neu nicht sind. Er kennt ihre Vorläufer und ist deshalb eher dagegen gefeit, den Feldzeichen selbsternannter neuer Paradigmata unbesehen zu folgen.

Zweitens: Die Methoden der Erkenntnisgewinnung sind in den letzten Jahren sowohl bei der Erhebung als auch bei der Auswertung empirischer Daten stark verfeinert worden. Methodenkombination, Mehrebenenanalyse, multivariante Auswertung mögen hier als Stichworte genügen. Allerdings: Quantifizierende Methoden, die in der Kommunikationsforschung gegenwärtig vorherrschen, sind zur Erfassung geschichtlicher Tatbestände häufig nicht angemessen. Bei der lückenhaften Materiallage der alten Quellen täuschen sie nur zu leicht eine Pseudopräzision vor. Die diachron vergleichende Inhaltsanalyse über lange zeitliche Distanzen etwa kann nur bei sehr abstrakter Kategorienbildung zu aussagefähigen Ergebnissen führen, wobei dann die historischen Besonderheiten von vornherein weggefiltert werden.

Drittens: Die Zeit der Einzelkämpfer ist auch in der kommunikationsgeschichtlichen Forschung vorbei. Kollektivprojekte und kooperative Arbeitsformen gewinnen immer mehr an Bedeutung: Sonderforschungsbereiche (wie jener in Siegen), Forschergruppen (wie die Deutsche Presseforschung in Bremen und die Projektgruppe Programmgeschichte im Deutschen Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main und der Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung, Wien), Arbeitsgemeinschaften (wie jene im Umkreis der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel), Vereinigungen wie der Studienkreis Rundfunk und Geschichte…
Karteikarte und Fotokopie werden immer mehr durch Computer und EDV abgelöst, die Manufakturen durch Industriebetriebe verdrängt. Allerdings: Die Ergebnisse werden sich an dem zu messen haben, was die findigen Einzelforscher der Vergangenheit vorgelegt hatten.

Der Gegenstandsbereich der Kommunikationsgeschichte wie der Geschichte überhaupt erweitert sich mit jedem Augenblick, in dem Zukunft den schmalen Korridor der Gegenwart passiert und zur Vergangenheit wird. Wo anfangen, wo aufhören? Ich möchte hier keine Landkarte der knowledge gaps skizzieren, mich nicht als Lücken-Detektor betätigen, auch keine Forschungsprogramme entwickeln, sondern schlicht zwei Fragestellungen nennen, die mich gegenwärtig beschäftigen. …