Einleitung: Im Sommer 1975 sah ich mich durch eine Midlife Crisis veranlasst, den Job eines Hochschulassistenten am Institut für Publizistik der Universität Wien mit dem eines Leiters der Stadtbücherei in meiner Heimatstadt Mürzzuschlag zu tauschen. Die Berufsbezeichnung Büchereileiter ist etwas irreführend, denn mein Personal bestand, abgesehen von der Reinigungsfrau, nur aus einer geringwertig beschäftigten Hilfskraft.
Das Volksbüchereiwesen in Österreich gilt im Vergleich zu anderen Ländern als unterentwickelt. Etwa 90 Prozent der hier Beschäftigten arbeiten ehrenamtlich. Volksbibliothekare sind in Österreich neben Politikern und Journalisten der einzige Berufsstand, für den es keine obligatorische Ausbildung gibt, pflegte ich zu predigen in den Jahren, als ich mich mit engagierten Kollegen für ein Österreichisches Büchereigesetz einsetzte. Als ich hauptberuflicher Büchereileiter wurde, hatte ich natürlich keine einschlägige Ausbildung. Ich genoss lediglich eine dreiwöchige Einschulung durch meinen Vorgänger, der dann nach Graz verzog. In den folgenden Monaten stand mir Willi Urisk als Konsulent zur Verfügung, der die Stadtbücherei von 1945 bis 1971 geleitet hatte. Wir freundeten uns sehr rasch an. Mich beeindruckte seine Biographie. Unter den Dokumenten, die ich in letzter Zeit durchsah, entdeckte ich die Notizen aus dem Personalakt, die ich erhalten hatte, als mir 1985 die Rolle zufiel, letzte Worte an seinem Sarg zu sprechen:
Eintritt ins Berufsleben während Wirtschaftskrise.
1929 –1934 gelegentliche Beschäftigungen.
1934 – 1940 Arbeiter und Kantinenleiter bei einer Baufirma.
Wegen politischer Gesinnung fast 5 Jahre im KZ.
Ab August 1945 Büchereileiter.
Es war die GESTAPO-Haft und nicht das KZ und Willi Urisk zählte zu den Überlebenden, als in den letzten Kriegstagen bei einem Bombenangriff an die 100 Strafgefangene und 20 Wärter den Tod fanden. Verurteilt hatte man ihn wegen der Mitgliedschaft „in einer verbotenen Partei, die eine selbständige, demokratische Republik Österreich zum Ziele“ hatte, und wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Das Indiz: Der Besitz einer Schreibmaschine, auf der ein regimekritisches Flugblatt getippt worden war. Mit Willi Urisk, der sich 1969 mit der Gruppe um Ernst Fischer und Franz Marek von der KPÖ getrennt hatte, unterhielt ich mich viel über Zeitgeschichte, aber nur wenig über Büchereigeschichte. Er stand mir nicht mehr als Auskunftsperson zur Verfügung, als 1986 die Förderungsstelle des Bundes für Erwachsenenbildung in Graz in Zusammenarbeit mit dem Historiker Stefan Karner ein Projekt startete, welches sich betitelte „Heimat erleben – Heimat erfahren: die Bücherei in der historischen Entwicklung der Gemeinde.“ Etwa ein Dutzend Büchereiorte zeigten sich interessiert.
Es gab einige Treffen mit dem Historiker. Wir suchten nach „harten Daten“ und nach Zeitzeugen. In der von einem Ehrenbürger verfassten Mürzzuschlager Gemeindechronik kam die Bücherei gar nicht vor. In der Bücherei selber gab es lückenhafte Unterlagen, zurückreichend bis in die vierziger Jahre. Auf einen Aufruf in der Gemeindezeitung meldeten sich sogar Zeitzeugen aus den dreißiger Jahren. Doch ihre ersten Aussagen erwiesen sich so unpräzise, dass es ratsam schien, zunächst in Archiven nach weiteren harten Daten zu forschen, ehe man die Zeitzeugen ein weiteres Mal gezielt befragte. Stefan Karner stellte uns Studenten für die Suche im Landesarchiv in Aussicht. Doch aus irgendeinem Grunde kam es nicht dazu und das Projekt verlief im Sande, denn die Aufrechterhaltung des Ein-Mann-Betriebes in der Provinz hatte Vorrang vor der Forschung in der Landeshauptstadt.
Sieben Jahre nach meiner Pensionierung ereilte mich ein Anruf aus einer ehemaligen Arbeitsstätte, ob ich nicht einige historische Daten aus einer anderen Arbeitsstätte liefern könne. Ich begab mich in die Mürzzuschlager Stadtbücherei und fand tatsächlich noch das vor 18 Jahren zusammengetragene Material. Nur die Zeitzeugen leben nicht mehr. Was in diesem Beitrag dargestellt wird, sind „Bausteine einer Büchereigeschichte“. …