Einleitung: Von den deutschen Schriftstellern, die es bereits in der Weimarer Republik zu Ansehen gebracht hatten, haben nur wenige, die keine „Weltliteratur“ geschrieben haben, das „Dritte Reich“ bzw. die Emigration literarisch überlebt, d.h. die Öffentlichkeit über den literarischen Markt nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht. Beispiellos in beiden deutschen Nachkriegsstaaten ist die Renaissance des Berliners Kurt Tucholsky nach 1945, der 1935, vereinsamt und verzweifelt, in der schwedischen Emigration aus dem Leben geschieden war.
Alles, was er selbst zwischen 1907 und 1932 in Buchform veröffentlicht hatte, ist nachgedruckt worden; in verschiedenen Ausgaben seiner „Ausgewählten“ und „Gesammelten Werke“ sind mit Nachtragsbänden bis in die 80er Jahre in West und Ost etwa 1800 der insgesamt mehr als 2900 seinerzeit in mehr als 80 Zeitschriften und Zeitungen gedruckten Beiträge erschienen, und seit 1995 werden in der auf 22 Bände angelegten „Gesamtausgabe Texte und Briefe“, die an der Ossietzky-Universität in Oldenburg erarbeitet wird, nach und nach alle vorhandenen Schriften zugänglich gemacht. Seine Lieder und Gedichte sind auf Tonträgern aller Art verbreitet.
Die Sekundärliteratur über ihn nimmt Jahr für Jahr um neue Forschungsergebnisse zu, obwohl er beharrlich von deutschen Germanisten gemieden wurde. Seit den fünfziger Jahren gibt es immer wieder Versuche „biographischer Annäherungen“ (so der Untertitel der Biographie von Michael Hepp, 1993), aber das Buch über Tucholsky entstand dennoch nicht. Bis jetzt ist es noch niemandem gelungen, sein Leben, seine Gesinnung, seine mit seinem Schreiben verfolgten Absichten und Zielvorstellungen, seine riesige Produktion – die kein formales oder stilistisches Zentrum hat – „sein Werk“ also kaum zu nennen ist, seine Zeit, sein Milieu, seine Wirkung zu einem Ganzen zu verweben. Ob es dazu einmal kommen wird, darf bezweifelt werden. …