Horst Jörg Haupt: Am Anfang war der Schrei Leistungsmöglichkeiten der Historischen Kategorialanalyse von K. Holzkamp für die historisch orientierte Kommunikationswissenschaft (Einführung in die historische Kategorialanalyse I)

Einleitung:

Grundbegriffsvergeßlichkeit der Kommunikationswissenschaften

„Am Ursprung jeder wissenschaftlichen Brrungenschall steht der Non-Konformismus. Die Fortschritte der Wissenschaft entspringen aus der Zwietracht. Opportet haereses esse“ (Fèhvre 1988, S. 21) so Lucien Fèhvre 1933 bei seiner Antrittsvorlesung im College de France.

Doch wo finden sich die kommunikationshistorischen, non-konformistischen „Errungenschaften der letzten Jahre? W. R. Langenbucher hat völlig recht: „Die diversen Geschichtswissenschaften und die Geschichtsschreibung haben Konjunktur (…), und noch immer ist die Kommunikationswissensehaft an dieser intellektuellen wie verlegerischen Konjunktur nicht beteiligt (Langenbucher 1992, S. 8). Es fehlt, wie W. R. Langenbucher einmal anmerkte, an „groben Würfen , an den „Synthesen , die den kommunikativen Gesamtzusammenhang theoretisch abbilden und analysieren. Kommunikationswissenschaft bedeutet entweder bloße „Kärrnerarbeit im „damals und dort oder „Zurücktragen: Aktuelle „Theorien werden im Kostüm des historisch-empirischen Materials „verkleidet .

Die Vorstellungen von den Leistungsmöglichkeiten kommunikationshistorischer Forschung sind begrenzt: Kommunikalionsgeschichte soll „aus prognostischen Gründen (Saxer 1987, S. 78) oder zwecks „Erklärung der Gegenwart (Jagschitz 1987, S. 730; Langenbucher 1987, S. 14) betrieben werden.

Ich meine, die Kommunikationshistoriker zeigen eine unangemessene Bescheidenheit. Sie könnten grundlegende Erkenntnisse zum Gegenstand der Kommunikation beitragen. Kommunikationsgeschichte kann das konkrete raum-zeitliche „So sein der Kommunikation analysieren, aber sie vermag auch Grundlegenderes zu bestimmen: Das Allgemeinste, was sich über Kommunikation sagen läßt, ist nämlich, daß sie sich entwickelt. Bei Dröge klingt dies an: „Für eine angemessene realilätsmächlige Theoriestrategie müssen die Parameter der Veränderung selbst Gegenstand der Theorie sein (Dröge 1992, S. 12).

Daraus folgt: Kommunikationswissenschaft sollte (auch) die Veränderungslogik des Gegenstandes der Kommunikation herausarbeiten, erst dadurch wird der Gegenstand grundlegend bestimmbar, d.h. auf den Begriff gebracht.

Dies verweist auf ein Problem, das m.E. die traditionelle Kommunikationswissenschaft sträflich vernachlässigt: Das Problem ihrer (fehlenden) Grundbegriffe. Bisher nämlich verführt sie „leihwissenschaftlich sensu Holzkamp: ,Sie bezieht ihre grundlegenden Begriffe aus Philosophie (Struktur, Funktion, System), Nachrichtentechnik (Kommunikator, Rezipient, Medium), Soziologie/Sozialpsychologie (Interaktion) oder anderen Wissenschaftsdisziplinen (Linguistik, Kybernetik); zu genuin eigenen Grundbegriffen ist sie bisher kaum vorgedrungen. Diese Grundbegriffsvergeßlichkeit (kein ernslzunehmender Kosmologe oder Mediziner würde einen fachlichen Disput um Grundbegriffe seines Fachs durch vorwiegenden Rückgriff auf philosophische Grundbegriffe leisten wollen) hat fatale Konsequenzen: Sie ist m.E. wesentliche Ursache ihrer (permanenten) Krise. Denn: „Bei der Analyse der ökonomischen Formen kann außerdem weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagenzien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen (Marx 1962, S. 12).

Begriffe sind die entscheidenden „DenkWerkzeuge von Wissenschaftlern. Und um diese „Denkwerkzeuge der Kommunikationswissenschaft ist es traurig bestellt: Andere Wissenschaften (Medizin, Physik) können auf jahrhundertealte Grundbegriffs-Diskurse zurück blicken, diese Wissenschaften fassen die Grundbegriffsbildung auch als grundlegendes methodologisches Problem.

In der neopositivistischen Tradition der Sozialwissenschaft jedoch erscheint die Grundbegriffsbildung kein grundlegendes methodologisches Problem darzustellen, Popper notierte zur „Tätigkeit des wissenschaftlichen Forschers : „Die erste Hälfte dieser Tätigkeit, das Aul stellen der Theorien, scheint uns einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein: An der Frage, wie es vor sich geht, daß jemand etwas Neue einfällt, (…) hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik (…). Wir wollen also scharf zwischen dem Zustandekommen des Einfalls und den Methoden und Ergebnissen seiner logischen Diskussion unterscheiden und daran festhalten, daß wir die Aufgabe der Erkenntnistheorie oder Erkenntnislogik (im Gegensatz zur Erkenntnispsychologie) derart bestimmen, daß sie lediglich die Methoden zur systematischen Überprüfung zu untersuchen hat, der jeder Einfall, soll er ernst genommen werden, zu unterwerfen ist (Popper, 1966, S. 6).

Andere „Individualwissenschaften wie die Psychologie weisen ähnliche GrundbegriffsDefizite auf; hier finden sich auch theoretische und methodologische Anregungen und Ansätze, wie dem „Begriffsdilemma beizukommen ist.

ln den 70er Jahren wurde in der Wissenschaftsdisziplin „Psychologie ein weitreichender Grundbegriffsdiskurs entfaltet – er ist mit dem Namen Klaus Holzkamp und seinen Mitstreitern innerhalb der sich inzwischen auch international formierenden „Kritischen Psychologie verbunden. Insbesondere in Klaus Holzkamps Standardwerk „Grundlegung der Psychologie wurde eine Grundbegriffsmethodologie vorgestellt, die auch uns Kommunikationswissenschaftern entscheidend bei der grundbegrilflichen Konstitution unseres Faches weilerhelfen kann. …