Gert Kerschbaumer: Die weiße Weste Zum René-Marcic-Preis 1988/89 der Salzburger Landesregierung

Einleitung:

„Europa wird nur genesen, wenn Deutschland genest. Deutschland aber wird nur genesen, wenn man es als gleichberechtigten Partner in die Völkerschar aufnimmt. Von dieser Warte aus gewinnen die wesentlichsten Ereignisse, die in oder um Deutschland in letzter Zeit vor sich gingen, eine klare Sicht. Das erste Ereignis ist der Londoner Sechsmächtepakt, der Deutschland in zwei Teile aufspaltet und dadurch eine Lage schuf, die sämtliche Verträge und Erklärungen, welche die Alliierten abgeschlossen oder abgegeben haben, außer Kraft setzt und dadurch auch das Problem Deutschland auf eine völlig neue Ebene rückt. Wenn die Alliierten die Verträge brechen und ihre feierlichen Deklarationen verwerfen, so steht ihnen wohl nicht mehr das Recht zu, sich als moralische Sieger zu fühlen. Was in den Jahren seit Kriegsende an Barbarei von Tschechen, Polen, Jugoslawen und anderen Völkern den Deutschen angetan, wie Deutschland hemmungslos ausgebeutet und jedes moralische Gefühl in einem Volk erstickt wurde, hebt all das nicht das nationalsozialistische Unrecht auf? Die besiegten Völker brauchen sich heute nicht mehr vor den Siegern zu schämen. Muß nicht heute jeder Deutsche, der in einem Konzentrationslager gewesen ist, von Zweifeln geplagt werden, weil alle Ideale, für die er einst eingetreten ist, schamlos in den Kot gezerrt wurden und eigentlich nichts mehr übrig blieb, als daß ein einziges Volk die Sünden einer ganzen Welt abbüßen soll?“

Viktor Reimanns Kolumne „Vabanque-Spiel um Deutschland“ (Salzburger Nachrichten, 3.7. 1948, 7) enthält einige Elemente jener „Gemeinschaftsleistung“ der drei Preisträger (und anderer Journalisten), die „entscheidend zu Aufbau und Entwicklung der nach 1945 gegründeten Salzburger Nachrichten“ beigetragen haben. Auch bietet sie dem politisch Denkenden eine Erklärung, warum dem „fulminanten Leitartikler“, dem „Mann der ersten Stunde“, das „nach freiem Wort lechzende Publikum“ mit Waschkörben von Leserbriefen dankte. Apologetische Tendenzen im Hinblick auf die NS-Zeit sind unschwer zu erkennen: Das „nationalsozialistische Unrecht“ wird erwähnt, die „Nachkriegsverbrechen“ (verwendeter Begriff in einigen anderen Artikeln) der „Sieger“, die „Barbarei von Tschechen, Polen, Jugoslawen und anderen Völkern“ werden hervorgehoben und aufgelistet, die Verbrechen der Deutschen werden bagatellisiert oder gerechtfertigt, einem besiegten Regime aufgeladen; aus der Perspektive eines deutschen KZlers wird den „Siegern“ der moralische Vorwurf gemacht, die „Ideale“ besudelt zu haben, wird das gesamte deutsche Volk als Sündenbock der Welt hingestellt; das Täter-Opfer-Verhältnis wird also umgedreht (Rachejustiz, Kollektivschuld).

(Wieder-)Aufbau ist nicht Neuaufbau, nicht erste Stunde im Sinne der „Stunde Null“-These, auch nicht demokratisches Bewußtsein, da es nicht über Nacht vom Himmel fällt. Erinnert sei an Antonio Gramscis Charakterisierung des Alltagsbewußtseins, das Gruppenzugehörigkeit vermittelt, aber gleichzeitig inkohärent und heterogen zusammengesetzt ist. Es enthält nebeneinander „Elemente des Höhlenmenschen“ und der „fortgeschrittensten Wissenschaft“; seine Elemente sind zum großen Teil „Ablagerungen“ von Bewußtseinsformen vergangener Epochen. Die verschiedenen Erfahrungen des Individuums bilden darin ein Nebeneinander heterogener Bestandteile, deren Widersprüchlichkeit in der Regel der Selbstreflexion entzogen ist. Ideologien stiften die Einheit von Gruppen, indem sie das widersprüchliche Nebeneinander kohärent machen, die sich gegenseitig blockierenden Elemente „in Ordnung“, in eine ideologische Ordnung bringen. Die Ordnungsmacher sind Identitätsstifter, bekommen Macht „über die Herzen des Volkes“ und wohl auch über dessen „Waschkörbe“ — eine Verbrämung der Realität, eine Form des „Waldheimelns“: Denn 1948 meinten noch 40 Prozent der Befragten, daß der Nationalsozialismus eine gute Idee gewesen, nur schlecht durchgeführt worden sei. Bei den Gemeinderatswahlen 1949 der Stadt Salzburg übertraf der „Verband der Unabhängigen“ (VdU) mit 30 Prozent sogar die ÖVP. Der „überparteiliche“ VdU-Präsidentschaftskandidat Dr. Breitner erhielt in der Stadt Salzburg sogar 48 Prozent der Stimmen. 1956 definierten mehr als 60 Prozent der befragten Salzburger ihre Identität als „deutsch“ (zum Vergleich: 24% in Wien). Die in diesem Kontext sich häufenden Feindbilder, welche die „Waschkörbe“ vermutlich zudeckten, dürfen nicht wegretuschiert werden.

Oscar Pollak meint 1946, daß es die meisten Menschen gar nicht spüren, wie sie noch im Nazijargon reden und schreiben, dem schauerlichen Diktatur-Deutsch, gemischt aus großmäuligen Phrasen und dem gräßlich-tüchtigen Amtsstil der Nazi-Partei-Bü- rokraten. Dem angesagten Kampf gegen den „inneren Nazi“ stand jedoch ein anderer Kampf gegenüber, der oben erwähnte „Ablagerungen“ mobilisierte. Sie werden hier abgeklopft, konturiert und einer kritischen Deutung zugeführt…