Einleitung
Österreich hat nach 1945 lange Zeit in der Illusion gelebt, sich der Welt als ein Land präsentieren (und verkaufen) zu können, das von der Geschichte leben könne, ohne sich mit ihr auseinandersetzen zu müssen. Vor allem dann, wenn es darum ging, die faschistische Vergangenheit zur Sprache zu bringen, wollte man am liebsten alles vergessen und vergeben wissen. Fester Bestandteil dieses nationalen, bei öffentlichen Anlässen und Feierstunden immer wieder präsentierten allzeit glücklichen geschichtsträchtigen und zugleich geschichtslosen Österreich waren zwei historische Mythen: Österreich als das „erste“ Opfer des Nationalsozialismus und die „Stunde Null“ des Jahres 1945. Während mit der Fiktion des überwältigten, vergewaltigten Österreich im Jahre 1938 die Frage von Mitschuld und Mitverantwortung für das Unrechtsregime des Nationalsozialismus außer Streit gestellt wurde, suggerierte die Fiktion der „Stunde Null“ einen nach der Niederlage des Nationalsozialismus vollkommen unbelasteten Neubeginn und gab damit endgültig die Möglichkeit, alles, was vorher in Österreich, an Österreichern und durch Österreicher geschehen war, einfach dem Vergessen anheim fallen zu lassen.
Daß dieses Vergessen ein Vergessen gegen massive Realitäten gewesen ist, die man nicht wahrhaben wollte, zeigt sich nun mit aller Deutlichkeit: Österreich und seine nicht bewältigte, nicht aufgearbeitete und nicht bearbeitete Vergangenheit sind ins Gerede gekommen. Nicht zuletzt durch die historische Nachhilfestunde der Massenmedien mußte die Geschichtswissenschaft in Östereich zur Kenntnis nehmen, daß vieles von dem, was im Verlaufe der letzten zwanzig Jahre in den Studierstuben erarbeitet und in wissenschaftlichen Publikationen niedergelegt worden ist, nicht das öffentliche Bewußtsein zu erreichen vermochte. Es wäre nun sicherlich verfehlt, sich beleidigt oder resigniert in die Bastionen der Wissenschaft zurückzuziehen. Notwendig ist es hingegen, sich gerade jetzt selbstkritisch und selbstbewußt zugleich, den Fragen der Öffentlichkeit zu stellen und in einen Diskurs über Möglichkeiten und Grenzen historischer Aufklärung durch Wissenschaft einzutreten. Anton Pelinka und Erika Weinzierl haben mit dem von ihnen herausgegebenen Sammelband „Das Große Tabu. Österreichs Umgang mit der Vergangenheit“ einen Beitrag zu der in Österreich immer wieder verweigerten „Trauerarbeit“ vorgelegt, wobei es ihnen vor allem darum ging, die „von außen kommende Kritik durch eine Kritik von innen zu ergänzen“ (S. 7). So enstand eine Sammlung von bemerkenswerten Texten, in denen engagierte Historiker, Zeitzeugen und Publizisten, Germanisten und Psychoanalytiker vesuchten, den Spuren dieser verdrängten, nicht zur Kenntnis genommenen österreichischen Vergangenheit nachzugehen und sich nach den Ursachen der permanenten Verdrängung zu fragen. Für die „Nachgeborenen“ entstand auf diese Weise ein überaus beeindruckendes Kompendium verschiedenster Ansätze und Erklärungsversuche, das nicht nur eine Fülle von Detailinformationen zur österreichischen Zeitgeschichte, sondern – und dies scheint mir im gegenwärtigen Zeitpunkt besonders wichtig – eine Reihe von Passagen enthält, die nachdenklich machen sollten – nachdenklich über das große Tabu Vergangenheit, das nun auch von einigen Tabu-Verletzern im wissenschaftlichen Bereich offengelegt worden ist. …