„Vor Jahren habe ich mal eine Weile in der Redaktion eines Pop-Magazins arbeiten dürfen. […] Das ist immerhin ein Ort, an dem man noch vergleichsweise viel Erfahrungshunger hinsichtlich kulturindustrieller Erzeugnisse erwarten darf, ein Ort, an dem die übleren Borniertheiten des schöngeistigen Milieus nicht vorkommen sollten. Wie habe ich mich deshalb darüber gewundert, dass ich dort erleben musste, wie Damen und Herren mit lupenreinster Bohème-Sozialisation in den besten Rauchkneipen Altwestdeutschlands in den Pausen zwischen öden Redaktionskonferenzen und hektischer Heftmacherei sich immer wieder das Maul über drastische Unterschichtsvergnügungen zerrissen haben – Pazifistinnen, Feministen, lauter Leute, die sich eher die Zunge abgebissen hätten, als ein politisch unkorrektes Röcheln von sich zu geben, schmähten da, so gut sie konnten, missliebige Rocker als ‚Inzest-Hinterwäldler‘, bezeichneten schrille weibliche Disco-Stars als ‚peinliche Realschülerinnen‘ oder nannten Computerspiele mit hohem Metzelfaktor ‚Unterhaltung für Untermenschen‘ – nicht im guten, bösen Spaß, sondern mit erhobenem Zeigefinger, im schönsten Lehrertremolo. Man kann ihn sich nicht vorstellen, wenn man nicht dabei war, diesen mit Ekel vor vermeintlich niederen Lebensformen vermischten Klassendünkel von Anwaltstöchtern und Fabrikantensöhnen, Buben mit Adelstiteln und Mädchen mit Nazigroßvätern, dieses altjüngferliche … na ja, schon gut. Ich hatte in meinem Leben vor meiner Arbeit bei der Pop- und sonstigen Kultur sowenig mit diesem liberalen Menschenschlag zu tun wie umgekehrt jene Damen und Herren mit Proleten, auch ordentlich anintellektualisierten wie mir.“
(Dath 2005, 82-83)
Diese Zeilen entstammen einem der fiktiven Briefe über Drastik und Deutlichkeit des fiktiven David an seine fiktive angebetete einstige Mitschülerin Sonja, in denen er, David, sich über die Missgunst von intellektuellen Pop-JournalistInnen gegenüber drastischen „Zeige-, Rede- und Beobachtungsformen“ (Dath 2005, 80) wie Rockern, Disco-Stars und somit auch Fans und ComputerspielerInnen beklagt. Dabei lebt die Drastik von ihrer Gegenwärtigkeit, Lebendigkeit und Intensität und scheint genau damit an aktuelle Zeitgeist-Diskussionen, etwa um Dauer/Geschwindigkeit, Realität/Virtualität, Skandalisierung, Erregtheit, Emotionalität und Empathie in mindestens postmodernen Medienkulturgesellschaften, anzuschließen, durchaus den längst auch in bestimmten Bereichen der Popkultur und ihrer Reflexion vorhandenen Habitus des Elitären, Anspruchsvollen provozierend. [Vgl. zu kulturwissenschaftlichen Konzepten und Diskussionen der Drastik die Beiträge in Giuriato und Schumacher (2016) und die Dissertationsschrift von Sanchino Martinez (2016), die neben theoretisierender Grundlagenarbeit auch Fallstudien zu Slayers Album Reign in Blood (Musik: Thrash/Heavy Metal), Lucia Fulcis Film L’Aldilá (Film: Horror/Splatter) und Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho (Literatur: Roman) vorgelegt hat.]
„Nicht nur im Bereich des öffentlichen Lebens, das den Ausdruck zumeist im Zusammenhang von politisch besonders wirksamen und extremen sowie schmerzhaften Interventionen kennt (Strafen, Sparmaßnahmen u.ä.), auch in kunsttheoretischer Hinsicht konstituiert sich Drastik dadurch, dass sie bestehende Normen, Erwartungen und Traditionen radikal in Frage stellt und verletzt.“
(Giuriato 2016, 16)
Eben diese Brüche können produktiv erschreckend, aber auch Abwehrhaltungen evozierend irritieren:
„Auf das freie Spiel mit Form und Zitat, auf den ironischen Hintersinn des Uneigentlichen und Sekundären fällt der Verdacht der modischen Weltangst und der ungebührlichen Realitätsflucht.“
(Giuriato 2016, 7)
David tut genau dies als fiktive Figur in einem literarischen Format. Und doch ist für informierte Lesende zu erahnen, dass hier und insbesondere im ausführlichen Zitat oben der langjährige Autor qualitätsjournalistischer Institutionen wie Spex, Texte zur Kunst oder Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dietmar Dath, nicht ganz schweigt. Dath publizierte zudem vor einigen Jahren mit Daniela Burger das laut eigenem Editorial komplett erfundene Musikmagazin The Shramps (Dath & Burger 2007). Dath scheint also sehr wohl involviert in die Bereiche Journalismus, Literatur, Musik und Kunst (und überall könnte ein „Pop“-Präfix erscheinen), [Vgl. zum Involvement in die Untersuchungsfelder bei der Analyse von Popmusikkulturen auch Diederichsen und Jacke (2011), Fisher (2015), Jacke (2013a), Jones (2012) und Terkessidis (2006).] spielt fiktional gerahmt mit Fakten, er schafft somit auch Fakten, vor denen sich gleichwohl in Hut zu nehmen ist. Seine Irritationen wirken. Und sie fälschen nichts, denn sie sind eingekleidet in Formate, die nicht nur für Eingeweihte, also etwa Daths Biographie und Werk Kennende, zumindest Warnungen oder Augenzwinkern aussprechen. Diese Veröffentlichungen wollen aber offensichtlich eben auch nicht verpuffen, wirkungslos bleiben, keine Kunst um der Kunst Willen. Nein, diese Irritationen sind schillernd, sind Pop und machen durchaus ernsthaft Spaß. Kleine Leerstellen und Unklarheiten („Meint Dath das nun wirklich so?“ bzw. „Wer spricht?“) tragen durchaus dazu bei und machen das Spiel nicht unbedingt unattraktiver. Bekanntermaßen geht es hier weder um als gut recherchiert erwartete Nachrichten der Tagesschau noch um als persönlich dem US-Präsidenten Donald Trump zugeschriebene Tweets.
Pop(musik)kulturelle Phänomene als mediale Phänomene konstituieren sich in Spannungsgefügen aus kreativen, vergnüglichen und lustvollen Spielen mit Behauptungen, Versprechen und Fakes einerseits sowie der Sehnsucht nach Authentizität und Orientierung andererseits. Eingeschrieben in soziokulturelle und medienkulturelle Dynamiken ist Pop hier Rahmen und Hintergrundfolie für das Ausloten und Verhandeln von Bruchlinien, Übergängen und hybriden Formationen von und zwischen Fakes und Fakten. Besonders deutlich ablesen lassen sich derartige ernsthafte Spielereien bis hin zu funktionalen oder produktiven Lügen an Texten (und Kontexten) von Literatur, Kunst, Musik, Werbung, PR und vor allem Journalismus in Bezug auf Pop – zwischen Gonzo-Journalismus, Entwurf anderer Welten und Spaß am (unerfüllbaren) Versprechen. Fake fungiert sozusagen als Glam, wobei Glam sich meistens des Fake bedient, das haben uns nicht zuletzt Marc Bolan, David Bowie und Suzi Quatro gezeigt. [Vgl. zu Fake und Fälschung ausführlich Doll (2012). Vgl. zu Fälschung und Authentizismus in Pop- und Medienkultur die beiden erstaunlich ähnlichen Positionen ansonsten so unterschiedlicher Denker wie Norbert Bolz (2006) und Diedrich Diederichsen (2006).] Im sogenannten postfaktischen Zeitalter von ungemein negativ aufgeladenen und politisierten Begriffen wie Fake-News, Lügenpresse oder auch alternative Daten scheinen postmoderne (De-)Konstruktivismen von autoritären Behauptenden simplifizierend und oftmals motivverdächtig angegangen zu werden, oftmals, um nämlich die eigene vereinfachende Position zu stärken und immun zu machen. Dieses geschieht ganz entgegen des im Kern eben nicht willkürlichen, beliebigen, sondern in unserem Verständnis höchst aufklärerischen und verantwortungsbewussten (de-)konstruktivistischen Gestus „auf dem Weg zu einer Medienmündigkeit und einer Autonomie des Denkens und Handelns“ (Pörksen 2018, 23).
Hier beginnen die Spiele vor allem außerhalb von Elfenbeintürmen gewissermaßen unlustig zu werden, sind eben Beurteilungen wie Lüge, Fake oder Fälschung als Fremdzuschreibungen im Bereich der (institutionalisierten) Politik und im Nachrichtenjournalismus kultürlich etwas gänzlich anderes als im Pop etablierte Selbstzuschreibungen, die sogar einen Glamour des Geheimnisvollen und Uneindeutigen (beziehungsweise im Fall der Drastik bewusst Übereindeutigen) ausstrahlen können. Die Frage bleibt der Glaube: Akzeptiere ich die Behauptung unhinterfragt, weil ich absolut vertraue? Oder möchte ich gar nicht überprüfen, weil ich längst ahne oder sogar weiß, dass die Behauptung nicht stimmt, sie aber etablierte Abläufe und Personen (be-)trifft? Finde ich gar Spaß an diesem Huckepack-Aufruhr? An dieser Stelle lernen wir aus den Popgeschichten zumeist eher (wenn auch wahrlich nicht nur) emanzipatorische Effekte: Es macht Spaß zu behaupten, umso mehr allerdings, sich zudem auszukennen und das Spiel mitzuspielen. Im Falle neuer politischer Populismen fällt diese Einordnung zumindest schwer. Das in Pop vom Populären und nicht von Populismus etablierte Als-Ob ist funktional wichtig, das weiß beinahe jedes Kind. Hier scheinen Pop und Kunst qua Teilnahme Wahlfreiheiten zu bieten, ähnlich tun das auch Journalismus, Werbung und PR, wenn auch schon deutlich fester gerahmt und zumindest zumeist klar gekennzeichnet. Bemerkenswerterweise hat sich nun in den gesellschaftlichen Bereich der absoluten Wahlpflicht qua Teilnahme, die Politik, schon seit längerem ein irritierendes Als-Ob eingeschleust, nämlich die wenig bis gar nicht an der politischen Gestaltung von Gesellschaft und Gemeinschaft interessierten PopulistInnen, DespotInnen und DiktatorInnen, die in einer Art fremderfüllter Prophezeiung das System politischer Demokratie kritisieren, aushöhlen und dann umso deutlicher gefährden und sich dabei durchaus einst progressiver Strategien bedienen (Anti-Establishment), aber bedauerlicherweise zum puren Zwecke eines Zurück oder Dagegen und eben nicht auf einem gesellschaftlichen Übungsfeld wie Pop. Und genau diese Figuren sind eben deswegen auch keine Fakes, sondern zumeist ganz „echt“ und sogar gewählt in ihren Ämtern und vor allem in den Auswirkungen ihrer Handlungen und Kommunikationsangebote. Diese seltsame „Realness“ macht schwer zu schaffen. Die gleichwohl besonders inszenierten, nur scheinbar comichaften Figuren selbst wiederum vermengen oftmals Gerüchte, Vorurteile, Stereotype und Meinungen, wenn sie etwa JournalistInnen angreifen oder schelten. An dieser Stelle kann nicht zu sehr in die Tiefe der Beobachtungen gegangen werden (vgl. auch Badiou 2017; Jacke 2017), soll aber festgehalten werden, dass diese Figuren einen erheblichen Anteil an der negativen, regressiven und wenig glamourösen Konnotation von Fake in den letzten Jahren haben. Während Pop sich augenzwinkernd des Fake bedient, ist Fake-News als Schimpfwort ohne Ironie und Witz und auf die Nachrichten diffamierend ausgerichtet gemeint, gewiss auch immer, um andere Gewalten in der Gesellschaft, wie die fünfte, die den PopulistInnen nicht gelegen kommt, zu diskreditieren.
Das vorliegende Heft möchte den PopulistInnen gewissermaßen den Begriff des Fake wieder wegnehmen und anders, eher in seiner progressiven Verwendung im Pop diskutieren. Sehen wir es doch so: Während populistische Figuren in Politik ernsthaft irritieren und täuschen und damit (hoffentlich) zu allergischen Reaktionen und einer Stärkung des Immunsystems sowie zu neuen Formen parlamentarischer Demokratien, zu neuen Arten und Rollen von Journalismus und Bildung führen sollten (Pörksen 2018), wird in Pop selbst weiter gespielt und doppelbödig getäuscht, freilich durchaus auch mal wenig gebildet oder sogar populistisch und nicht nur populär. Wobei ja auch in Pop nicht immer die authentische Unauthentizität (sensu Lawrence Grossberg, vgl. Jacke 2013b) erwartet wird, sondern auch mal schlichtweg „Wahrheit“, wie wir etwa aus dem berühmten Skandal um das nicht selbst singende, von Frank Farian produzierte Discosoul-Duo Milli Vanilli oder die De- und Remaskierungen der US-amerikanischen Glam-Hardrockband Kiss gelernt haben, ohne, dass die Gesellschaft, geschweige denn die Pop-Industrien, einen Schaden genommen haben. Im Fall der Band Kiss wurde sogar nach einer kommerziell weniger erfolgreichen demaskierten Phase wieder zu den Masken zurückgekehrt.
Weniger Skandalon als vielmehr Alltagsbetrieb scheinen in Pop die Verwischungen zwischen PR, Werbung und Journalismus zu sein, einerseits durch eher künstlerische Experimente von PopjournalistInnen, andererseits durch prekäre Arbeitsverhältnisse, die manch eine gleichzeitige und lukrativere Tätigkeit von JournalistInnen für die Promotion, etwa einer Band oder eines Labels, erklären könnten. Vermeintlich ist das nicht so schlimm, da das im Business zum einen sowieso alle Beteiligten wissen und erwarten, zum anderen wird hier von AkteurInnen selbst immer wieder gesagt, dass es in Pop eben alles etwas weniger getrennt abläuft. [Vgl. zu Pop(musik)journalismus die (immer noch zu seltenen) Ausführungen von Doehring (2011; 2017), Jacke (2013a, 115-131; 2014), Reus und Naab (2014), Springer (2005) und Wittenberg (2005) sowie die Beiträge in Jacke, James und Montano (2014).] Es bleibt ambivalent und sehr situations- und kontextabhängig, wie uns der Skandal um Tom Kummer wiederum gezeigt hat, der sich und die betroffenen erfundenen Interviews mit Weltstars wie u.a. Courtney Love zwar nachträglich in Kunst- und Popkontexte stellte, damit aber seine Fälschungen im Rahmen von Qualitätsjournalismus nur wenig entkräften oder „aufhübschen“ konnte (Reus 2004). Höchstwahrscheinlich wären sie ihm ebenso übelgenommen worden, wenn sie in einer Popmusikzeitschrift anstatt im Magazin der Süddeutschen Zeitung publiziert worden wären. (Wobei sowohl das Magazin der Süddeutsche Zeitung als auch dessen Chefredakteure Ulf Poschardt und Christian Kämmerling zumindest um das Jahr 2000 herum und vorher künstlerischer und popkultureller Verbindungen nicht unverdächtig waren.)
Aktuelle Diskussionen um den Wandel des Journalismus mit Schwerpunkt auf politischem (Nachrichten-)Journalismus ebenso wie die zu Kultur- oder Popjournalismus zeigen eine schrumpfende Zahl von JournalistInnen, prekäre und schwieriger werdende Arbeitsverhältnisse und Rollenverständnisse wie das der neutralen Vermittlung und eben auch Aufklärung, Publikumsorientierung und Unterhaltung (Steindl, Lauerer & Hanitzsch 2017). Das geht einher mit dem Multitasking auf diversen Plattformen und in diversen Bereichen (wie eben PopmusikjournalistInnen, die auch Promotiontexte verfassen), die Konfrontation mit der Komplexität und Geschwindigkeit sozialer Netzwerke und Algorithmen sowie dem Willen, einen alternativen, gut recherchierten, ausgeruhten Journalismus als Pendant zu durchaus nicht pauschal als schlecht zu bewertenden Amateurismen und politischer Propaganda zu präsentieren (Bader & Ertelt 2017). Damit könnte die zuletzt vom Journalismus- und Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (2018) diagnostizierte Wahrheits-, Diskurs-, Autoritäts-, Behaglichkeits- und Reputationskrise mit der von ihm verschriebenen Therapie einer konkreten Utopie der redaktionellen Gesellschaft behandelt werden, und zwar auch im Pop(musikkultur)journalismus, der hier geradezu als Avantgarde der Herausforderungen, Probleme, Chancen und Utopien eines zukünftigen Spiels um Fakten, Fiktionen, Fakes und Pop und einer latenten Begleitung von PR, Werbung und Kunst erscheint und Pörksens Analyse nur allzu gut zu kennen vermag:
„Es verschmelzen im Zuge der Digitalisierung, der Vernetzung und des weltweiten Einsatzes von digitalen Medien das Hier und das Dort, das Vergangene und das Gegenwärtige, die Information und die Emotion, das Gesprochene und das Geschriebene, das Reale und das Simulierte, die Kopie und das Original. Das ist eine entscheidende Veränderung in der globalen Organisation von Information, ein Wechsel von der stärker publikums- und kontextspezifischen Segmentierung hin zur integrierenden Konfrontation. Man hat nicht mehr oder minder strikt getrennte Informationssphären für Junge und Alte, Kinder und Erwachsene, sondern alle können potenziell alles sehen. Sie können fortwährend senden und empfangen, immer und zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei der Arbeit oder in der Freizeit, von jedem Ort der Welt. [Hervorh. i. O., B.F./C.J.]“
(Pörksen 2018, 12-13)
Diese Ausgabe von medien & zeit widmet sich den dynamischen und fluiden Beziehungen von Fakten und Fakes im Zeitalter der faszinierenden Gleichzeitigkeit von Transparenz und Intransparenz und erkundet inter- und transdisziplinäre pop(musik)kulturelle Gravitationsfelder, die sowohl über derartige Unterscheidungen operieren als diese auch eben verwischen – und zwar zumeist unabhängig von Autoritäten. Das Heft ist in einige ausführliche Beiträge nach gewohntem Format sowie einige eingestreute kürzere Statements von an Reflexion zu populären Medien- und Kunstkulturen erfahrenen DenkerInnen gegliedert und spielt damit mit Inhalten und Formaten.
Eingeleitet wird dieses Themenheft mit einem Beitrag von Sonja Eismann. In Manche sind faker als andere arbeitet die Autorin genderspezifische Dimensionen eines positiv aufgeladenen Fake-Begriffes heraus. Sie stellt dabei fest, dass Weiblichkeit in der Regel auf der Konsumentinnenseite eine Chiffre für unaufrichtige, inkonsequente Begeisterung, für unzureichendes Wissen, falsche oder ausbleibende Werkinterpretation und mangelnde Ausdauer war und auf der Produzentinnenseite die musikalischen bzw. handwerklichen Fähigkeiten bzw. die Autorinnenschaft per se in Frage gestellt wurde. Auf Basis zahlreicher Belege resümiert Sonja Eismann, dass es doch schön wäre, wenn alle Geschlechter ausnahmslos von der transgressiven, befreienden Fakeness von Pop profitieren könnten.
Der darauffolgende Beitrag von Stefanie Roenneke – Identitätsspiele. Die neue Künstlichkeit von St. Vincent – widmet sich der Künstlichkeit und Inszenierung der Figur St. Vincent, die durch das Nutzen von Versatzstücken aus Popkultur und Mode sowie durch die Objektifizierung der Figur in ihren öffentlichen und veröffentlichten Auftritten Momente einer camp-typischen Überreizung und spielerischen Sinnentleerung erkennen lässt. Die Autorin reflektiert vor dem Hintergrund des Konzeptes Camp ausgewählte Aspekte dieser Figur und stellt diese schlussendlich vergleichend in den Kontext der Künstlerin Nicki Minaj.
Daran anschließend argumentiert Jens Balzer in seinem Statement Es gibt keine Wahrheit im Pop – es sei denn, man fälscht sie die These, dass so wie Politik in das Zeitalter des Postfaktischen eingetreten ist, Pop in gegenläufiger Bewegung in ein Zeitalter des Post-Fake hineinsteuerte. Er plädiert dafür, dass auch in einem Klima des Postfaktischen Pop seine Wahrheit nur im Fake suchen kann und soll – diese Dialektik müsse Pop aushalten (können), sonst würde er am Ende zwangsläufig als schlichter Spiegel des unwahren Ganzen dastehen.
Joachim Westerbarkey und Christoph Jacke nehmen in ihrem Beitrag Pop im Kopp. Ein Vorschlag zur Image-Analyse eines schwer fassbaren Phänomens zwischen Fakt, Fiktion und Fake Pop-Images in den Blick. Das Aufgreifen von Aspekten ihrer eigenen „wirklich wahren Geschichten“ in Hinblick auf Popmusik bildet dabei den Ausgangspunkt, um das Spiel mit unterschiedlichen Realitäten aus verschiedensten Blickwinkeln zu beleuchten, nicht zuletzt aus einem methodischen. Die Autoren präsentieren auf Basis von Programm- und Pressetexten zu Pop-Ikonen, Pop-Epigonen und Musikveranstaltungen ein empirisches Instrument, mit dem die Zuschreibung von Merkmalen dargestellt und verglichen werden kann.
In seinem Statement Konstruktivismus: ein Pate des Fake_Ismus geht Siegfried J. Schmidt auf den Vorwurf der Neuen Realisten ein, die postmoderne Philosophie und damit auch „der“ Konstruktivismus seien verantwortlich für den völlig beliebigen Umgang mit Wirklichkeit und Wahrheit. Dabei fokussiert der Autor das vielfältige bedingte und „Konsequenzen-reiche Er-Leben“ von Wirklichkeit, die Wirklichkeit-für-BeobachterInnen und Wahrheit als jenen Stand der Dinge, der nach akzeptiertem Wissen der beteiligten BeobachterInnen sowie unter der glaubwürdigen Voraussetzung ihrer glaubwürdigen Wahrhaftigkeit als wahr akzeptiert wird. Daraus folgert Siegfried J. Schmidt, dass nur wenn die Differenz von Fakten, Fiktionen und Fakes semantisch präzisiert und kulturell akzeptiert wird, es in Gesellschaften Handlungsspielräume für die Produktion, Kommunikation und Rezeption von Fiktion in Kunst und Literatur geben kann.
Daran anschließend untersucht Malte G. Schmidt in seinem Beitrag Back to the Future: (Popmusik-) Journalismus im neuen faktischen Zeitalter den Einfluss postmoderner und konstruktivistischer Theorien in Hinblick auf die Praxis und Erforschung des (Popmusik-)Journalismus. Im Zentrum stehen Ansätze, die die legitimatorische Basis der Wahrheitsvermittlung infrage stellen. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass im Gegensatz zum vermeintlich postfaktischen Zeitalter, das im Zuge der Fake-News-Debatte ausgerufen wurde, eher eine Rückbesinnung auf tradierte Werte der Hochmoderne und auf ein erhöhtes Bedürfnis nach kollektiven Sinnangeboten zur Identitäts-konstruktion argumentiert werden kann.
Popjournalismus steht auch im Beitrag von Hans Nieswandt im Zentrum. In seinem Beitrag Popjournalismus als Parlament zeichnet er (s)eine Geschichte des Popjournalismus in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der vielfältigen Ver- und Aushandlungsprozesse musikjournalistischer (Team-)Arbeit nach, welche sich seiner Ansicht nach mit dem Internet aufzulösen beginnen: Niemand müsse sich mehr mit Meinungen, die ihm/ihr gegen den Strich gehen, auseinandersetzen, und kein Raum müsse mehr erkämpft werden.
Harald Schroeter-Wittke führt in seinem Artikel Faith is Fake (naNa Na naNa) Eine kleine 10-Punkte-Theologie des Glaubens, der Berge versetzen kann aus, dass der christliche Glaube als faith (fiducia) und die dialektische Doppelstruktur des Fake nahe Verwandte sind. Aus kultur- und theologiegeschichtlichen Perspektiven liest der Autor zentrale biblische Szenen und Narrative neu und empfiehlt dabei fakesmile statt Faksimile mit dem Hinweis: Wer’s glaubt, wird selig.
Der Beitrag Popmusikevents, Fakes und die (Wieder-)Verzauberung der Welt von Beate Flath thematisiert Fake im Zusammenhang mit Live-Events der Popmusikkultur und erachtet darin Fake als Teil von Inszenierungen. Ausgehend von der These der „Entzauberung der Welt“ nach Max Weber bzw. der „Entzauberung der Prämissen der Moderne“ im Kontext der Modernisierung der Moderne nach Ulrich Beck und Wolfgang Bonß werden Live-Events der Popmusikkultur als Räume der (Wieder-)Verzauberung argumentiert – Fakes als Formen von Fälschungen, deren Aufdeckungen bereits in der Anlage mitkonzipiert sind, sind Teil davon. Als wesentliche Besonderheit von Live-Events der Popmusikkultur wird dabei jener Umstand erachtet, dass der Akt des Aufdeckens der Täuschung, d.h. der für die Inszenierung zentrale Moment zwischen Täuschung und Aufdeckung, in einer Gruppe erlebt wird, die mit den jeweiligen BühnenakteurInnen – den Täuschenden – zur selben Zeit am selben Ort ist.
Lassen wir zum Ausklang dieses Editorials und zum Auftakt ins Heft am besten Pop selbst sprechen am Beispiel der Lyrics des Titelsongs des gerade erscheinenden Albums Fake (Glitterhouse Records 2018) der deutschen Band Die Nerven. Die Band wurde von der Qualitätspresse, glauben wir dem Info Sheet („Waschzettel“) des Labels, als „das vielleicht beste deutsche Trio seit Trio“ (Der Standard), „am miesesten gelaunte Rockband, die dieses Land momentan zu bieten hat“ (Die Zeit) oder „beste Liveband des Landes“ (Christian Ihle von der taz) bezeichnet. Das klingt nach wahrlich schillernden Konstruktionsangeboten für das Image von Anti-Stars, die ernst genommen werden können, vielleicht sogar sollten, um der metamodernen Haltung informierter Naivität oder pragmatischem Idealismus’
„zwischen modernem Enthusiasmus und postmoderner Ironie, zwischen Hoffnung und Melancholie, zwischen naïveté und Wissen, Empathie und Apathie, […] zwischen dem modernen Wunsch nach Sinn und dem postmodernen Zweifel am Sinn überhaupt.“
(Van den Akker & Vermeulen 2015, 24-27)
zumindest begegnen zu können:
„was ich heute sage
morgen schon vergessen
nichts was in Erinnerung bleibt
her mit euren Lügen
her mit eurem Neid
ich habe Algorithmen die alles erklären
Multiplikatoren um alles zu vermehren
ein Funken im System
the war inside
her mit euren lügen
her mit eurem Neid“
Wir möchten uns zuvorderst bei den AutorInnen für die wunderbare Zusammenarbeit und bei der Redaktion von medien & zeit, allen voran bei Gaby Falböck und Christina Krakovsky, die uns zu einer (erneuten) Herausgabe eingeladen haben, ganz herzlich bedanken. Zudem danken wir ausdrücklich Maryam Momen Pour Tafreshi für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.
Wir widmen das vorliegende Heft dem während der Erstellung leider verstorbenen Vater von Christoph Jacke, dem Buchhändler Gerhard Jacke, von dem Christoph Jacke schon sehr früh die Freude an und die Bedeutung von Sprache zwischen Literatur, Journalismus und Alltag gelernt hat.