Einleitung: In der Kommunikationswissenschaft ist eine erfreuliche Belebung des Interesses an der eigenen Vergangenheit zu bemerken. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre wurde beispielsweise in umfangreichen Publikationen an den vergessenen Heidelberger Journalisten-Ausbildner Adolf Koch (Obst, 1987) und an den eigentlich nicht vergessenen Gründervater der Berliner Publizistikwissenschaft, Emil Dovifat (Benedikt, 1986), erinnert.
An dieser Nostalgiewelle fällt auf, daß sie vornehmlich Gelehrten gilt, die bereits eine besondere Identität als Zeitungswissenschaftler hatten oder zur Entwicklung dieser Identität im Prozeß der Institutionalisierung der Publizistikwissenschaft Entscheidendes beigetragen haben. Mit Medienthemen auch, aber nicht nur befaßte Klassiker des sozial wissenschaftlichen Denkens allgemein geraten dagegen – wie Max Weber – bei Vergleichen mit ihren spezialisierteren Zeitgenossen in ein negatives Licht (Obst, 1987) oder werden – wie Karl Bücher und Paul F. Lazarsfeld – sogar auf Kongressen, die eigens ihrem Werk gewidmet sind, weniger wahr- und ernstgenommen als die aktuellen Auseinandersetzungen innerhalb der Disziplin.
Dabei haben sich fast alle soziologischen Klassiker mit Medienthemen befaßt, vermutlich weil die Gründungsphase der modernen Sozialwissenschaft von der Frage nach den Besonderheiten der Moderne geprägt war und die Massenkommunikation zu den spezifischen Phänomenen der modernen Gesellschaft gehört. Die einschlägigen Schriften von Karl Marx und Friedrieh Engels, Max Weber, Robert E. Park, Ferdinand Tönnies, Paul F. Lazarsfeld oder Theodor Geiger, man könnte auch noch Georg Simmel, Karl Mannheim und Alfred Schütz hinzunehmen, sind von der gegenwärtigen Publizistikwissenschaft (wie übrigens auch von der gegenwärtigen Soziologie, die das Medienthema lange der Publizistik Wissenschaft überlassen hat) nicht in dem Maße rezipiert, das ihrer Bedeutung entspricht. Im deutschsprachigen Gebiet sind diese Texte größtenteils vergriffen oder – wie bei Weber, Geiger und Lazarsfeld – noch gar nicht publiziert.
Vielleicht hängt diese Erinnerungslücke auch damit zusammen, daß die Publizistikwissenschaft noch nicht aus den Kinderschuhen heraus ist und nach wie vor ein unbefriedigtes Identitätsverlangen hat. Warum sonst reden Kommunikationswissenschaftler so gern von ihrer „Zunft“ – die doch gerade keine geschlossene Zunft ist und auch hoffentlich keine werden will?
Daß sich die Medienforschung kaum an ihre sozialwissenschaftlichen Ursprünge erinnert, bringt Verluste an Weltoffenhcit, Problembewußtsein und Allgemeinvcrständlichkeit mit sich, die durch den Zuwachs an empirischen Daten und an Fachterminologie nicht wettgemacht werden. Das zeigt beispielsweise ein Vergleich zwischen Ferdinand Tönnies’ und Elisabeth Noelle-Neumanns Theorien der öffentlichen Meinung (Pöttker, 1991). Zwar ähneln sich diese stark hinsichtlich des beobachteten Phänomens, aber was Relevanz, Plausibilität und Differenziertheit der Erklärungsmuster betrifft, kann die Schweigespirale nicht mit dem Klassiker des soziologischen Denkens mithalten. Auch bei der Lektüre verschollener Texte Max Webers, Theodor Geigers oder Paul F. Lazarsfelds erheben sich Zweifel, ob in den letzten 50 bis 80 Jahren in der Kommunikationswissenschaft tatsächlich ein Erkenntnisfortschritt stattgefunden hat. …