Einleitung:
„Die Wunde ist unheilbar, sie wird immer bösartiger, immer fressender; und das Übel wird
immer größer, je mehr es geduldet wird, bis zu dem Tag, wo über die Zeitungen durch ihre Üppigkeit und Massenhaftigkeit die Verwirrung kommt, wie in Babylon.“
I.
Ein Volk mit einer Sprache. Und dann der unsägliche Turmbau, der alles zerstreute und verwirrte. Es mag eine mythische Einheit gewesen sein, jener nachgerade paradiesische Zustand, da jeder jeden verstanden, jeder für jeden gearbeitet hat – eine Ordnung indes, die mit der Kantschen Aufklärung restauriert wurde. Harmonisch wie ein Turm, dessen runde Grundfläche zylindrisch in die Höhe ragt, sollten Mensch und Menschheit vorangehen. Dass sich die Moderne wie ein Kopf stehender Kegelstumpf entwickelte, der namentlich breiter, kaum höher wird, hatte Kant gewiss nicht geplant. In seinem kurzen Text „Was ist Aufklärung?“ gibt der Philosoph drei Beispiele passiver Vernunft: Unmündig ist, wer den Verstand einem Buch, das Gewissen einem Seelsorger, den Diätplan einem Arzt überlässt. In dieser Passage einen Konnex zum Kantschen Hauptwerk zu sehen, bedarf keiner großen opfarbeit, zumal die drei Kritiken, wie Michel Foucault formulierte, als „Handbuch der in der Aufklärung mündig gewordenen Vernunft“ fungieren. Wenn die Menschheit genug ortgeschritten ist, Wissenschaft, Politik und Kunst universalistisch gereift sind, jenes goldene Zeitalter, das aufgeklärte nämlich, anbricht, dann sollen die Menschen erkannt haben, wie sie frei denken und handeln können.
Die Fragen des Positivisten, wann und wo Karl Kraus Schriften von Kant wie gründlich gelesen hat, lassen sich dann schwer beantworten, wenn man meint, es sei wichtig, zu wissen, an welcher Stelle des Krausschen ücherregals die „Kritik der Urteilskraft“ gestanden ist. Wer die Ausdauer hat, sich auf die Texte des Satirikers einzulassen, kann getrost auf extensive Materialrecherche verzichten. Denn dass Kraus das schier „Negative (welches die eigentliche Aufklärung ausmacht) in der Denkungsart“ wie kein anderer kultivierte, hat die Fackel, jene Zeitschrift, für die er fast vier Jahrzehnte verantwortlich zeichnete, seit ihrem programmatischen Vorwort bewiesen. Der damals 25-jährige Herausgeber wandte sich an ein argloses Publikum, eine Öffentlichkeit, „die zwischen Unentwegtheit und Apathie ihr Phrasenreiches oder völlig gedankenloses Auskommen findet“. Kraus präsentierte sich als Unabhängiger Publizist, als parteiloser Warner, der seine benommenen Zeitgenossen wachrüttelt. Wenn die Augen erst geöffnet, die Sinne munter sind, dann „predigen die Verhältnisse das Erkennen socialer Nothwendigkeiten“, dann kommen die Tatsachen unverblümt zutage. Zweifellos geht es dem Autor der Fackel um eine Vorbildfunktion, um die publizistische Hoffnung, „dass der Kampfruf, der Missvergnügte und Bedrängte aus a l l e n Lagern sammeln will, nicht wirkungslos verhalle“. …