Diotima Bertel, Gaby Falböck, Anna Klail
Verletzbarkeit stellt „ein unhintergehbares Faktum menschlicher Existenz“ (Zirfas 2020, 142) dar. Als Thema der Kunst in ihren vielfältigen Darstellungsformen begegnet uns Vulnerabilität durch alle Epochen hindurch und innerhalb sämtlicher gesellschaftlicher Ebenen und Lebensphasen. Götter und Göttinnen, Königinnen und Könige, KriegerInnen und HeroInnen, Adel und BürgerInnentum, Bauern, Bäuerinnen und HandwerkerInnen können aufgrund einer unerwarteten politischen oder wirtschaftlichen Krise, einer Fügung des Schicksals, eines Unfalls, einer Krankheit, kurzum aufgrund eines unabsehbaren Ereignisses aus ihren vermeintlich stabilen Plätzen in den Rängen des sozialen Gefüges katapultiert werden. Der Mensch ist verletzlich: In seiner Körperlichkeit, seiner Psyche wie auch seinem sozialen Sein. Wer trotz der ästhetischen Impulse zur Stiftung von Sensibilität für diese Conditio Humana Zweifel gehegt haben sollte: Spätestens die Entwicklungen der letzten beiden Jahre, in denen eine vermeintlich mit Sicherungssystemen ausgestattete, technologisch hochentwickelte und in ihren sozialen Grundstrukturen moderne, aufgeklärte Gesellschaft mit einer gewaltigen medizinischen und sozialen Krise konfrontiert wurde und die (Vor-)Zeichen einer lange ignorierten ökologischen Krise unübersehbar werden, verdeutlichten den reichen westeuropäischen Gesellschaften ihre Vulnerabilität.
Die Massenmedien in ihrer klassischen wie digitalen Form bilden das Thema der Vulnerabilität implizit wie explizit ab. Sie tun dies jedoch keineswegs konsistent und geradlinig: Einerseits zeugt die Sozialreportage als Genre mit langer Tradition (Hendrik 2020, Payer 2010) von der Verletzlichkeit menschlichen Seins im nahen Umfeld wie in der Ferne und verfolgt dabei einen investigativen bis anwaltschaftlichen Journalismus. Andererseits bildet Celebrity-Berichterstattung vorzugsweise in breitenwirksamen, unterhaltungsorientierten Massenmedien diese Verletzlichkeit als Fall nach einem oft kometenhaften Aufstieg – mit voyeuristischem, mitunter zynischem Blick ab (Elliot 2018, Pörksen & Krischke 2013, Schierl 2007, Wippersberg 2007). Parallel dazu wird uns in der Wirtschafts- wie Politikberichterstattung auf der strukturellen (Marcinkowki & Pfetsch 2009), wie in den sozialen Medien auf der individuellen Ebene (Krämer, Eimler & Neubaum 2017, Schuegraf 2013, 2015; Rode & Stern 2019), das Bild des starken, flexiblen, kompetenten, ewig jungen und erfolgreichen, jedenfalls aber unverwundbaren Individuums vorgezeichnet. Im Grunde genommen wird das Thema der Vulnerabilität hier unter negativem Vorzeichen verhandelt: Die Schwäche des Subjekts existiert in dieser makellosen, weil digitalen Welt nicht.
Auf der Folie dieser zu beobachtenden medialen Praxis wie unter dem Eindruck der aktuellen Pandemie-bedingten Krise widmet sich medien & zeit in der vorliegenden Ausgabe dem Konzept der Vulnerabilität und seiner Potenziale für die kommunikationswissenschaftliche Forschung. Dazu bedarf es zunächst einer Bestimmung dieses Begriffs: Das Konzept der Vulnerabilität informiert darüber, wie wir Menschen klassifizieren, Ressourcen in der Gesellschaft zuweisen und unsere sozialen Verpflichtungen definieren; es hat wichtige Auswirkungen auf die Ethik, das soziale Wohlergehen und letztlich auf das tägliche Leben (Brown 2011). Die COVID-19 Pandemie hat aufgezeigt, wie wichtig die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema ‘Vulnerabilität’ ist – heute wie auch aus geschichtlicher Perspektive. Denn unterschiedliche Konzeptionen von Vulnerabilität und welche Gruppen als vulnerabel gelten, werden als Rechtfertigung für staatliche Eingriffe in das Leben von BürgerInnen herangezogen, unter Begründung ihrer Schutzbedürftigkeit (ebd.).
Das Thema Vulnerabilität begleitet bestimmte kulturelle Entwicklungen – von ökologischen Katastrophen, Armut, der Finanzkrise, internationalem Terrorismus, Seuchen, bis hin zu Kriegs- und Flüchtlingssituationen. Solche Entwicklungen sensibilisieren für Vulnerabilität, weil sie die Verletzlichkeit von Gegenständen, Systemen, Gruppen oder Individuen vor Augen führen (Zirfas 2020). Insofern ist ein kritischer wissenschaftlicher Diskurs aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven unerlässlich. Wenn nicht ausreichend definiert, birgt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Vulnerabilität jedoch die Gefahr, dass der Fokus weg von strukturell-gesellschaftlichen Aspekten hin auf individuelle gelegt wird (Brown 2011, Katz et al. 2019). Dann wird Vulnerabilität zu einer Frage der persönlichen Schwäche, welche es zu korrigieren gilt. Dem setzen sich Überlegungen entgegen, Vulnerabilität als eine relationale Kategorie zu denken (Brown 2011, Katz et al. 2019, Zirfas 2020) bzw. als ‘strukturelle Vulnerabilität’ zu definieren, in dem die Verletzlichkeit eines Individuums durch seine Position in einer hierarchischen sozialen Ordnung und deren vielfältigen Netzwerken von Machtbeziehungen und Wirkungen hervorgerufen wird (Quesada, Hart. & Bourgois 2011).
Die vorliegende Ausgabe von medien & zeit eröffnet zunächst mit theoretischen Überlegungen für eine zeitgemäße kommunikationshistorische bzw. -wissenschaftliche Forschung zu vulnerablen Gruppen: Es sind Fragen der Forschungsethik wie eine Ausleuchtung des Prismas Intersektionalität, die in den ersten beiden Beiträgen verhandelt werden.
Intersektionalität ist als Konzept intrinsisch mit Vulnerabilität und dessen Auswirkungen verbunden. Assimina Gouma und Johanna Dorer beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Entwicklung dieses Konzepts in der Kommunikationswissenschaft und beleuchten sowohl theoretische Zugänge als auch empirische Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte. Sie gehen von den Wurzeln der Intersektionalität in der Schwarzen Frau*enbewegung aus auf den Paradigmenwechsel ein, den Intersektionalität und dessen Kritik in der feministischen Forschung ausgelöst haben. Dabei werden unterschiedliche Differenzkategorien und deren Verwendung in der kommunikationswissenschaftlichen Praxis thematisiert, wodurch deutlich wird, dass Ungleichheit nur schwer adäquat kategorisiert und ganzheitlich dargestellt werden kann. Von den 90er Jahren weg widmen sich Gouma und Dorer dann den wichtigsten Ergebnissen der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft und stellen unterschiedliche Zugänge zu dem Konzept dar. Die Autorinnen liefern hiermit einen wichtigen Abriss über die Bedeutung von Intersektionalität in der Kommunikationswissenschaft und zeigen auf wie bedeutsam die Beschäftigung mit dieser Perspektive auf Vulnerabilität ist.
Nach diesen Betrachtungen auf der Metaebene wendet sich medien & zeit konkreten empirischen Studien und damit einer Konkretisierung von Vulnerabilität zu: Ljubomir Bratic leuchtet in seinem Beitrag aus, mit welchen kommunikativen Strategien an wie auch innerhalb eine(r) vermeintlich vulnerablen Gruppe – den MigrantInnen aus Jugoslawien in Österreich – adressiert wurde. Bratic arbeitet vier verschiedene Formen von Medien der Migration heraus: Ab den 70er Jahren informierten die Medien aus der Heimat Jugoslawien ihre “Arbeiter und Bürger, die temporär im Ausland arbeiten“ über die Ereignisse zu Hause, während die sozial- und wirtschaftspolitischen Institutionen ÖGB, AK und die Industriellenvereinigung in Österreich zunächst Informationen über das Gastland an die GastarbeiterInnen richteten. Im historischen Verlauf wurde aus den GastarbeiterInnen MigrantInnen und dieser sozialpolitischen Entwicklung Rechnung tragend, traten auch andere Herausgeber wie der Wiener Zuwandererfonds bzw. der Wiener Integrationsfonds in Erscheinung. Wie Bratic aufzeigt, entstanden parallel dazu bereits Printmedien von innerhalb der sich selbst organisierenden Migrationsgemeinschaften in Österreich wie Zeitungen und Zeitschriften von unternehmerisch denkenden Einzelpersonen aus der Community. Letztere verliehen den MigrantInnen aus Ex-Jugoslawien eine Stimme sowie Identität, Gemeinschaftsgefühl und waren auch Austragungsforum für die ethnischen Konflikte, die im damaligen Jugoslawien schwelten und bis heute nicht ruhen. Wie der Autor ausführt, war hier weniger von Schwäche, denn von gemeinsamer Stärke qua Identitätsstiftung die Rede. Bratics migrationsgeschichtlich wichtiger Beitrag verdeutlicht einmal mehr, dass Vulnerabilität eine durch hegemoniale Instanzen erfolgende Zuschreibung von Außen, weniger eine Disposition im Inneren von Migrationsgemeinschaften darstellt.
Die Endlichkeit der menschlichen Existenz und die damit einhergehende Vulnerabilität gilt als eine gesellschaftlich wohl weitgehend akzeptierte Ausprägung von Verletzlichkeit. Wurde dieses sensible Thema lange im Privaten geregelt, findet die Verhandlung dieses Lebensabschnitts zunehmend in der Öffentlichkeit statt. In unserer auf Sicherung ausgerichteten Gesellschaft werden deshalb auch Szenarien für einen menschlichen und für die Betroffenen wünschenswerten Umgang im Falle eines Verlusts der Entscheidungsfähigkeit für oder gegen Erhalt dieses Lebens gedacht. Anna Wagner, Susanne Kinnebrock und Manuel Menke stellen in ihrem Beitrag die Befunde ihrer empirischen Auseinandersetzungen mit medialen Debatten zum Thema Tod, Sterben und Pflegebedürfigkeit einerseits wie die sich auch daraus konstituierenden mentalen Konzepte für diese Lebensphase vor. Wie die Studie aufzeigt, tritt in diesem Kontext nicht nur reale Vulnerabilität hervor, sondern ist in digitalen Räumen auch kommunikative Verletzbarkeit feststellbar.
Die COVID-19-Pandemie hat durch ihre epidemiologischen, kulturellen, politischen und sozioökonomischen Auswirkungen die Vulnerabilität von Individuen und sozialen Gruppen drastisch vor Augen geführt. Der Beitrag von Su Anson, Peter Wieltschnig, Mistale Taylor und Niamh Aspell beschäftigt sich mit der Notwendigkeit, sowohl das Konzept der Vulnerabilität als auch den Informationsbedarf vulnerabler Individuen, Gruppen und Gemeinschaften intersektional zu betrachten, um Kommunikation inklusiv gestalten zu können. Mehrseitige Kommunikation und kontinuierliche Interaktion sind ein notwendiger Schritt, um sicherzustellen, dass vulnerable Gruppen nicht von den COVID-19-Kommunikationspraktiken ausgeschlossen werden, was ihre Verletzlichkeit möglicherweise noch erhöht.
In der Research Corner eröffnet Elisa Pollack einen Einblick in ihre Dissertation zum Thema “Medien und kollektive Identität – Biographische Annäherungen an Mediennutzung und -bewertung von Ost- und West-BerlinerInnen in der Nachwendezeit”. Wenngleich das leitende Bild dieser Auseinandersetzung jenes der kollektiven Identität repräsentiert, zeugt auch diese Studie implizit von Vulnerabilität einer Gruppe: Die Autorin verdeutlicht wie Konzepte von Ostdeutschen die Forschung zur Mediennutzung dieser Gruppe lange prägten und welche Perspektivenverschiebung ein offener Zugang zur Mediennutzung der BerlinerInnen ermöglicht.
So wie uns die COVID-19-Pandemie auch nach über einem Jahr noch begleitet, wird auch das Thema der Vulnerabilität weiter verhandelt werden. Diese Ausgabe von medien & zeit nähert sich diesem Thema aus einer großen Bandbreite an Perspektiven, die alle auf die Herausforderungen hinweisen die strukturelle wie auch individuelle Verletzlichkeit mit sich bringt. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen eine spannende Lektüre und alles Gute für unsere aktuelle vulnerable Situation