Einleitung: Was sich am 30. Jänner 1933 in Berlin abspielte, hatte nichts mit einer Revolution zu tun. Das Kanzleramt wurde von Hitler weder erkämpft noch ergriffen, sondern wie ein Paket in Empfang genommen, das eine „Clique von adligen Reaktionären“ (Hobsbawm, 2003, S. 79) geschnürt hatte und vom Staatsoberhaupt zugestellt wurde. Das ist keine neue Einsicht, sondern ein Sachverhalt, auf den Historiker und Journalisten ebenso häufig hinweisen wie auf den folgenden Prozess, der bis Mitte 1934 dauerte und mit Recht Machtergreifung genannt wird (Bracher, 1984). Weniger bekannt ist die Tatsache, dass es ein Buch, das heißt ein Fragment über diese politischen Ereignisse gibt, das während ihres Ablaufs entstanden ist und zwei Leitfragen der NS-Forschung medienkritisch zu beantworten versucht: Wie konnte das geschehen? Und was konnte man wissen?
Der Wiener Publizist Karl Kraus fing gleich nach der Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler an, Dokumente über die Vorgänge im Nachbarland zu sammeln, entschied sich jedoch, dem Datum der letzten Quellen zufolge Ende September 1933, die Korrektur des im Lauf eines halben Jahres verfassten, bereits gesetzten Texts mit dem Titel Dritte Walpurgisnacht abzubrechen. Die nächste Ausgabe der Fackel, die im Oktober herauskam, bestand stattdessen aus einem Nachruf auf den befreundeten Architekten Adolf Loos, der im Sommer verstorben war, und einem Gedicht, dessen letzter Vers lautet: „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte“ (Kraus, 1944, S. 4). Im Juli 1934 veröffentlichte Kraus zwar einige Passagen in einem mit „Warum die Fackel nicht erscheint“ überschriebenen Heft seiner Zeitschrift; verlegt wurde das formal abgeschlossene, nicht vollendete Werk aber erst 1952 von Heinrich Fischer. Seit 1989 liegt die Dritte Walpurgisnacht As zwölfter Band der Kraus sehen Schriften vor, die Christian Wagenknecht im Suhrkamp-Verlag herausgegeben hat (Kraus, 1989). …