Elisabeth Oswald: „…man hat das gar net so ernst genommen…“ Informationsmanagement und kommunikatives Verhalten innerhalb einer burgenländischen Gemeinde nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl

Einleitung: 

„Unsicherheit
Ungläubigkeit
Das darf doch nicht wahr sein
Und doch
Es musste ja passieren
Die belügen uns Verharmlosen
Manipulieren
Wem kann man noch glauben
Verantwortung für die Zukunft
Wir wollen leben
Ohne Angst
Ohne Atom“
(Glötzner, 1986, S. 41)

Sonntag, 26. April, 1 Uhr, 23 Minuten, 40 Sekunden: Im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert ein Atomreaktor. Damit ereignet sich die größte anzunehmende Katastrophe innerhalb eines Atommeilers. 28. April 1986, k. A.: In Norwegen, Schweden und Finnland werden erhöhte Werte an radioaktiver Strahlung gemessen. Die sowjetische Atomenergiebehörde schweigt und streitet ab. 28. April 1986, 21 Uhr: Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS teilt mit, dass es im Kernkraftwerk Tschernobyl zu einem Unfall gekommen ist.

29. April 1986: Erst zwei Tage nach der Explosion in Tschernobyl berichten deutsche und österreichische Medien erstmals über die Katastrophe (Franke, Schreiber, Vinzens, 1996). Aus heutiger Sicht hat die Meldung über den Reaktorunfall die Welt verändert, brachte diffuse Aufregung, fundamentale Angst und elementare Verunsicherung in die Bevölkerung. Da war plötzlich eine unsichtbare, ungreifbare Bedrohung, die ob ihrer Unfasslichkeit unabwendbar erschien.

Die Menschheit hielt den Atem an und wartete auf weitere Informationen, Anweisungen und Unterstützung aus den Medien. So zumindest stellt man sich in der Retrospektive die Ereignisse vom April 1986 vor. Die Menschheit hielt also den Atem an – oder auch nicht? Wie erlebten Menschen, die rund 1400 Kilometer entfernt vom Unglücksort in einem kleinen österreichischen Dorf leben, diese wohl größte zivile Katastrophe des letzten Jahrhunderts? Wie haben sich diese Menschen informiert, die nicht wirklich wussten, ob oder inwiefern sie betroffen waren? Wie genau wusste man zu diesem Zeitpunkt über Atomenergie Bescheid? Und: Wie verhielten sich öffentliche Institutionen und Behörden gegenüber der verängstigten Bevölkerung?

Diese Fragen und auch jene welches kommunikative Verhalten Menschen nach einer Katastrophe in einer krisenhaften Situation an den Tag legen, sollte im Zuge der vorgestellten Studie beantwortet werden. Ort der Untersuchung war die rund 1000 Einwohner umfassende Heimatgemeinde der Autorin, Rotenturm an der Pinka im Süden des östlichsten österreichischen Bundeslandes, dem Burgenland.

Zur Anwendung kam das Verfahren der Oral History, der „mündlichen Geschichte“, die ihren Fokus nicht auf etablierte Großerzählungen, sondern auf eine akteurszentrierte Mikrohistorie legt. Die zentrale Forschungsperspektive dieser Methode ist es die erinnerten Erfahrungen von „einfachen“ Leuten, die mit Hilfe von Erinnerungsgesprächen erhoben werden, zu gewinnen und zu dokumentieren. Dieses Verfahren wurde bisher vor allem von jenen Sozial- und Kommunikationshistorikern angewandt, denen es darum ging die dominanten Sichtweisen und Erzählformen zu korrigieren. Anwendung fand dieses Verfahren besonders in jenen historischen Abschnitten in denen die Zeitgeschichte politisch umstritten ist. Oral History untersucht die Verarbeitungsformen von historischen Erlebnissen und ist interessiert an einer der Geschichte „von unten“, an einer Rekonstruktion der Ereignisse aus der Sicht der Erfahrungen der „einfachen Leute“. Die Lebenswelt einzelner soll untersucht werden sowie die Wirkungen von politischen und sozialen Veränderungen auf die Umgangsformen mit alltäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen (Behmer, 2008; Botz, 1988).

Die Auswahl der Befragten zielte darauf ab, Repräsentativität im Hinblick auf die personelle Struktur des Ortes anno 1986 zu gewährleisten, indem Menschen aus den verschiedensten Bereichen, Positionen und Rollen innerhalb des Ortes zum Zeitpunkt 1986 um Gespräche ersucht wurden. Insgesamt konnten 12 Personen interviewt werden, darunter der ehemalige Vizebürgermeister aus Rotenturm, der Gemeindeamtsleiter, der ehemalige Volksschuldirektor, aber auch Privatpersonen aus Rotenturm, die ebenfalls besondere Erinnerungen und ihre persönliche Geschichte zu Tschernobyl haben. Gesprächspartner waren zum Beispiel Eltern, die zu diesem Zeitpunkt Kleinkinder hatten oder ein Sonderschullehrer, der versuchte seine Schüler aufzuklären und zu schützen. Besonders interessant war das Zusammentreffen mit einer Frau, die zum Zeitpunkt der Reaktorexplosion nur ca. 60 km entfernt von der russischen Grenze in Ungarn lebte. Um zu ergiebigeren Informationen zu kommen, wurden die Personen unter anderem in Realgruppen wie der Familie befragt. Gestützt waren die Interviews auf einen Leitfaden, der den Rahmen der Gespräche absteckte und die Richtung vorgab. …