Einleitung: Im Zeitalter des Gedächtnisses operiert der Blick in die Vergangenheit in einem zweifachen Rahmen: Nicht allein durch die Bezugnahme auf das historische Ereignis selbst, sondern auch auf bisherige Formen der Rekonstruktion und Interpretation eines Ereignisses im kulturellen Gedächtnis. Im sogenannten „Gedenkjahr 1938/88“ – dieser Begriff setzte sich im medialen Diskurs rasch durch – agierten die Projekte einer Auseindersetzung mit der „unbewältigten Vergangenheit“ Österreichs vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass die bereits im Gründungsdokument der Zweiten Republik – der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 – eingeschriebene Externalisierung der NS-Vergangenheit praktisch unverändert bis zur Zäsur der Waldheim-Debatte 1986 bestanden habe. Die seit 1945 erfolgten Initiativen gegen die Verharmlosung des Nationalsozialismus, die symbolischen Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre um die Durchsetzung des als kommunistisch und/oder als praktisch nicht existent angesehenen Widerstandes als historischem Bezugspunkt des neuen Österreich waren dem kulturellen Vergessen anheimgefallen: Sie waren in den cultural frames des Zerbrechens der Opfer- und Widerstandserzählungen, aus denen sich die politischen Mythen im Nachkriegseuropa (Judt, 1993) speisten, nicht mehr von Relevanz bzw. nachgerade unsichtbar geworden.
Zwanzig Jahre nach 1988 kann von der tabula rasa einer gänzlich „unbewältigten Vergangenheit“ im Blick auf 1938 allerdings nicht mehr die Rede sein, angesichts der gesellschaftlichen Grundsatzdebatte des Gedenkjahres 1938/88 und den darauf folgenden Diskussionen, etwa im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung und regelmäßig angesichts von Wahlerfolgen der Haider-FPÖ bzw. der im Jahr 2000 gebildeten ÖVP-FPÖ Regierungskoalition. Wie Gesellschaften erinnern, erklärt sich offenkundig nicht allein aus dem konkreten historischen Bezugpunkt eines lieux de memoire, sondern auch aus den Formen des Durcharbeitens, des Ausverhandelns, die ein Ereignis bereits erfahren hat. Damit gewinnt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen kollektivem Gedächtnis und den Logiken medialer Aufmerksamkeit (Franck, 1998) an Relevanz: Geht man von Jan Assmanns Definition von kulturellem Gedächtnis als „kollektiv geteiltem Wissen“ aus, so sind Medien im Hinblick auf die Formierung dieses spezifischen Wissens von elementarer Bedeutung, sowohl was die verdichteten Phasen der Auseindersetzung mit dem „heißen“ Gedächtnis (Maier, 2002) einer Gesellschaft betrifft als auch die Tradierung jenes unhinterfragten impliziten Wissens, das die cultural patterns eines Kollektivs reproduziert und tradiert.
Das Jahr 1938 erfüllt zweifellos die Kategorie eines „heißen“ Gedächtnisortes, vergleicht man allerdings 1988 mit 2008, dann erscheinen die Kontroversen um „Anschluss“ und Opferthese weitgehend an sozialer Energie eingebüßt zu haben. Dieser Befund basiert nicht auf einem Fehlen an medialer Aufmerksamkeit anlässlich der 70. Wiederkehr des März 1938, ganz im Gegenteil: Die „Anschluss“-Tage haben erwartungsgemäß eine entsprechende Resonanz in Medienberichten gefunden, waren Gegenstand von Sonderbeilagen, Serien und Titel-Storys in den Print-Medien, von Hörfunk-Sendungen und TV-Dokumentationen. …