Einleitung:
Theoretische Prämissen
Im derzeit in Arbeit befindlichen Band 5 des von W. F. Haug herausgegebenen „Historisch- Kritischen Wörterbuchs des Marxismus“ gibt es zu Gegenöffentlichkeit einen Entwurf von Christoph Spehr. Seine Einsichten beruhen auf marxistischen, bestimmten theoretischen Überlegungen der Cultural Studies sowie feministischen poststrukturalistischen Positionen. Als theoretische Ausgangsposition für die Darstellung und Bewertung konkreter Prozesse bei der Bildung von Gegenöffentlichkeit scheinen mir seine folgenden Feststellungen produktiv. Gegenöffentlichkeit ist nach Spehr „ein Ort von Auseinandersetzungs- und Verhandlungsprozessen, die in weitgehend bewußte, anerkannte und durchgesetzte Vorstellungen gesellschaftlicher Veränderung münden“. Sie entsteht, wo Menschen ihre Anliegen in der herrschenden, dominanten Interessen dienenden Öffentlichkeit nicht oder nicht frei äußern können bzw. mit ihren Äußerungen ohne Einfluss bleiben. Öffentlichkeit sei ganz allgemein, „ein Prozeß, in dem sich eine soziale Kooperation (eine Gruppe, ein Produktionszusammenhang, eine Bewegung, Arbeits- oder Lebensgemeinschaß, Gesellschaß) durch Kommunikation, Normalität und Identität konstituiert, verhandelt und verändert, sich über Regeln, Rollen, Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven vergewissert. Zu diesem Prozeß gehören Akteure, Medien und Orte; er besteht in Information und Interpretation, Repräsentation und Artikulation.“
Auch eine dominante, ausgrenzende Öffentlichkeit könne „nie das gesamte, stets in Bewegung befindliche System von Öffentlichkeiten vollständig kontrollieren oder selbst produzieren“. Die amerikanische Feministin Nancy Fraser schreibt, feministische Gegenöffentlichkeit sei ein Angriff auf die patriarchale Deutungsmacht über die Grenzen zwischen Öffentlich und Privat. Sie ziele auf die Verschiebung und Veränderung dieser Grenze, aber nicht notwendig auf ihre völlige Aufhebung.
Ich teile Spehrs Vorstellung von multiplen Öffentlichkeiten, die ein ineinander übergehendes Geflecht von herrschenden und Gegenöffentlichkeiten bilden. Ihr Einfluss lässt sich keineswegs linear aus ihrer dominanten Position bzw. aus ihrem Status als Gegenöffentlichkeit ableiten, und ich halte Frasers Hinweis auf Gegenöffentlichkeiten, die die Grenzen öffentlicher Wahrnehmung verschieben, diese aber nicht unbedingt aufheben, ebenfalls für sinnvoll…