Einleitung: In den 1960er und frühen siebziger Jahren scheint die theoretische Welt von „Gegenöffentlichkeit“ noch einfach – zumindest wenn man den entsprechenden Konzepten von Jürgen Habermas, Oskar Negt/Alexander Kluge oder auch Hans Magnus Enzensberger folgt, jenen auch heute noch gerne zitierten Ikonen „emanzi- patorischer“ Theorieproduktion im (deutschsprachigen) Diskurs.
Diese Feststellung mag zunächst verwundern. Jedoch findet sich trotz aller Komplexität der Sprache und Darstellung in „Klassikern“ wie Habermas „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ oder Negt/Kluges „Öffentlichkeit und Erfahrung“ ein im Grunde simples Grundschema: Auf der einen Seite die Sphäre „strategischer“, „repräsentativer“ oder „repressiver Kommunikation“, den Imperativen von Macht und Geld unterworfen („das System“ wie sie später Jürgen Habermas in Anlehnung an Niklas Luhmann nennen wird); auf der anderen Seite die Forderung nach einer „kritisch-kommunikativen“ (Habermas), „emanzipatorischen“ (Enzensberger) oder schlicht „Gegen-Öffentlichkeit“ (Negt/Kluge) als entsprechendem Gegenstück.
Trotz der unscharfen Bezeichnung „Gegenöffentlichkeit“ (explizit fällt der Terminus nur bei Oskar Negt und Alexander Kluge) sowie der sich um den Begriff rankenden Diskurse sind die grundlegenden Gegensätze leicht auszumachen: ob „proletarisch“ versus „bürgerlich“, „kommunikativ“ versus „strategisch“, „emanzipatorisch“ versus „repressiv“ — in jedem Fall wird eine, wie noch zu zeigen sein wird, Form „historischer“ oder „kommunikativer“ „Wahrheit“ dem etablierten Öffentlichkeitsverständnis gegenübergestellt.
Nicht nur einige der späteren Arbeiten der Autoren selbst, sondern auch die zunehmende Übersetzung und Rezeption alternierender philosophischer (z.B. Jean-Francois Lyotards „postmodernes Wissen“) oder erkenntnistheoretischer Werke (v.a. Humberto Maturanas „Erkennen“) stellen – zumindest seit ihrer deutschsprachigen Übersetzung zu Beginn der achtziger Jahre – die erkenntnistheoretischen, „historisch-dialektischen“ und sprachphilosophischen Grundlagen dieser – wie ich sie nennen möchte – „Wahrheitskonzepte“ in Frage.
Anerkennung finden heute schließlich auch die am — mittlerweile in die Universität Birmingham integrierten – „Center for Contemporary Cultural Studies“ (CCCS) entwickelten und freilich nur durch unsere verspätete Rezeption „neuartigen“ Konzepte der Cultural Studies.
Diese – durch die „feministische Revolution“ am Birminghamer CCCS, aber auch durch Themenstellungen wie „Migration“, „Race“ und „Gender“ – heute weit ausdifferenzierte Theorie-Formation ermöglicht schließlich eine völlig andere, nicht auf „Wahrheiten“ aufgebaute Theoretisierung jenes Feldes, das sich landläufig mit „Gegen-“ oder „alternativer“ Öffentlichkeit umschreiben lässt.
Nicht zuletzt der Aufschwung des Internet gab schließlich Anlass zu – wenn auch mittlerweile sehr stark gedämpften – Hoffnungen auf eine neue „gegenöffentliche“ Praxis, erinnert die Struktur des Netzes doch auf den ersten Blick stark an Enzensbergers (und Brechts) Vision von gleichberechtigten Produzenten und Kanälen. Dem Internet ist daher ein kurzer Ausblick am Ende dieses Textes gewidmet.
Vorneweg – „eine“ oder „die“ Theoriegeschichte von Gegenöffentlichkeit – sozusagen als historisch kontinuierlicher, einheitlicher und zweifelsfrei nachvollziehbarer Diskurs — kann hier nicht vertreten werden. Abgesehen von der Frage, ob solch eine Kanonisierung im Sinn der Sache überhaupt sinnvoll wäre, steht solchem Ansinnen auch das Argument gegenüber, dass die Theorierezeption in der „gegenöffentlichen“ Praxis selbst eher als fragmentarisch angesehen werden muss – abgesehen vom Mangel an ausreichendem empirischen Material über Verbreitung und Rezeption verschiedener Theorien und der jeweiligen Struktur der entsprechenden und verstreuten Diskurse.
Im folgenden sollen daher hauptsächlich solche Theorieansätze aus den 60er, 70er, 80er und 90er Jahren als „Baukastenelemente“ näher skizziert werden, welche als „paradigmatische Erschütterungen“ gegenüber ihren Vorgängern angesehen werden können. Zur Reihung benutze ich dabei als pragmatisches Kriterium weitgehend die Jahreszahlen der deutschsprachigen Erstübersetzungen.
Als „Vorgeschichten“ der im folgenden dargestellten Ansätze sollen hier noch Berthold Brechts „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“, Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner mechanischen Reproduzierbarkeit“, Sergej Tetrajkovs „Kunst in der Revolution“ sowie vor allem Adorno/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ nicht unerwähnt bleiben – jedoch zwingt Kürze zur Auswahl…