Einleitung: In einer illustrierten Theatergeschichte der zwanziger und dreißiger Jahre wären zwei Bilder denkbar: Das erste Bild könnte einen Herrn mit geballter Faust zeigen, ihm wäre folgender Text zugeordnet: „Das Theater ist nicht tot. Es wird nicht sterben. Aber es wird umgeschmolzen. Aus einem Instrument satter Genießer und ewig wiederkehrender Verdauer zur erhöhten Wirklichkeit proletarischen Kampfes, revolutionären Alarms. Erlebnis der Kunst nicht als Bildung, sondern als gesteigerter Sinn deines Lebens. (…) Weg zu diesem Ziel: die Volksbühne.“ (Oskar Maurus Fontana: Notwendigkeit einer Volksbühne. In: Kunst und Volk Mitteilungen des Vereines „Sozialdemokratische Kunststelle“. 1. Jg. Nr. 5 (Juni 1926), S. 2)
Das zweite Bild könnte einen Herrn zeigen, der ein Kreuz in der Hand hält und offenbar über volkstümlich-religiöses Theater nachdenkt, denn ihm wäre folgender Text zugeordnet: „Landstreicher erschlagen einen Priester, der nachts auf einem Versehgang begriffen ist. Aber so wie Christus nach der Kreuzigung auferstanden ist, so steht auch sein Geist über die Mörder auf und überwältigt sie zur Religion der Liebe und Demut. Arme, verlorene Vagabunden werden so zu Erweckten in Gott, zu Landstreichern des Himmels. Eine fromme, schlichte, rührende Legende unserer Zeit, gemalt mit gläubiger Hingabe wie eines der bäuerlichen Glasbilder aus der heiligen Geschichte. Das Schöne (…) ist seine innige und reine Verbundenheit mit dem religiösen Volksgefühl.“ (Ders.: Mysterienspiele im Deutschen Volkstheater. In: Der Wiener Tag, 28. April 1934)
Revolutionäres Theater gegen Mysterienspiel, zwei gegensätzliche Positionen. Im konkreten Fall würde der genaue Betrachter allerdings erkennen, daß die beiden Herren einander ähnlich sehen, der Herr mit dem Kreuz ist nur um einige Jahre älter als der Herr mit der geballten Faust. Und tatsächlich stammen die beiden hier gegeneinandergesetzten Zitate von einer Person, dem Theaterkritiker und Schriftsteller Oskar Maurus Fontana. Den Aufruf zu einer Volksbühne veröffentlichte Fontana 1926 in den Mitteilungen des Vereins der „Sozialdemokratischen Kunststelle“ er erneuerte diesen Aufruf 1928, als er eine Volksbühne der „revolutionäre(n) Leidenschaft“ forderte (Ders.: Wille und Weg der Volksbühne. In: Kunst und Volk 3. Jg. Nr. 1 (September 1928), S. 20). Die Akklamation der Wiedererweckung des Mysterienspiels hingegen publizierte Fontana im April 1934 in der Zeitung Der Wiener Tag, sie bezog sich auf „Das Wächterspiel“ von Rudolf Henz, dem Schriftsteller und Kulturfunktionär des au- strofaschistischen Regimes.
Nach dieser Einstimmung sei das Thema in zwei Geschichten behandelt, die einander durchaus widersprechen können. Die erste fragt nach den Möglichkeiten einer demokratischen Theaterpublizistik im Wiener Tag, die zweite folgt den verschlungenen Wegen eines österreichischen Expressionisten in den dreißiger Jahren…