Einleitung: Zu den vielstrapazierten Topoi der Pressekritik in den 7()er Jahren gehörte, daß die Tageszeitungen ihre Leser, deren kommunikativen Bedürfnisse und Bedarfe nur ungenügend berücksichtigten oder aber funktionalistisch ausbeuteten. Die heute renommierten Medienpolitiker wie -Wissenschaftler Volker Glotz und Wolfgang Lan- genbucher schrieben beispielsweise schon 1968 einen vielbeachteten, dreimal aufgelegten Verriß mit dem Titel „Der mißachtete Leser“, der 1993 als neuerliches Reprint in der Reihe „Exlibris Kommunikation“ erschien (Glotz/Langenbucher, 1969). Darin spießten die Autoren die Defizite und Verfehlungen der bundesdeutschen Tagespresse, gemessen an ihrem Auftrag nach Art. 5 des Grundgesetzes und an den ihr von der Wissenschaft zugemessenen Funktionen, eindringlich auf.
Heute gäbe es gewiß noch mehr Anlaß und Grund, den Zustand und die Aufgabenerfüllung der Presse zu bedenken, gewiß auch sie zu be- und verurteilen. Denn die damals monierten Tendenzen der Kommerzialisierung, der Oberflächlichkeit und marktorientierten Sensationsmache haben sich zweifelsohne verstärkt. Dennoch ist es merklich still um solche kulturkritischen Verdikte geworden. Ihr Fehlen indiziert zumindest die inzwischen vollzogene Aufmerksamkeits-, wenn nicht die Bedeutungsverschiebung: Die elektronischen Medien Fernsehen und Computer beschäftigen und bekümmern die Gemüter weitaus stärker. Selbst ein Hans Magnus Enzensberger geißelt heute vorzugsweise das „Nu II- medium“ Fernsehen. Bereits 1962 hatte er der FAZ vorgeworfen, sie pflege die verwerfliche Kunst des journalistischen Palimpsests, der herrschaftssprachlichen und doppelzüngigen Produktion von Mülltexten und phraseologischen Fassaden (Fnzensberger, 1971, S. 71).
Betrachtet man indes diese Kultur- und Pressekritik genauer, so erkennt man, daß sie den Leser selbst in den 7()er Jahren weitgehend nur als fiktives Konstrukt, oft auch nur als analytischen Vorwand für die persönliche Enttäuschung ihrer Autoren oder die analytische Diskrepanz zwischen Realität und Anspruch bemühte. Als wirkliches, empirisches, soziales Wesen interessierte sie der Zeitungs-Leser höchstens mittelbar, er blieb von dieser Pressekritik so mißachtet wie von der getadelten Presse selbst. Aber auch in jüngerer Zeit sucht man vergebens nach analytisch-empirischen Erkundungen des Zeitungslesers.
Solche Ignoranz blickt auf eine lange, bislang zu wenig beachtete Tradition: Denn auch die bedeutenden publizistikwissenschaftlichen Werke über die Presse behandeln den Lesern nicht oder allenfalls stiefmütterlich: Das gilt etwa für K. Sehottenlohers Wegweiser „Flugblatt und Zeitung“ durch das gedruckte Tagesschrifttum von 1848 bis zur Gegenwart von 1920, der von J. Binkowski 1985 bis in die 60er Jahre unseres Jahrhunderts hinein fortgeschrieben wurde, ebenso wie für (). Groths anerkannte systematische Zeitungskunde in vier Bänden von 1929 ff. Selbst die von J. Wilke 1976 überarbeitete „Zeitungslehre“ des publizistikwissenschaftlichen Nestors E. Dovifat von 1931 rubriziert den Leser bezeichnenderweise unter der Kapitelüberschrift „Die Technik und Wirtschaft im Zeitungsbetrieb“ und widmet ihm gerade 16 Seiten. Und nur folgerichtig kennt Dovifats dreibändiges „Handbuch der Publizistik“ (1969) – das letzte in der Tradition tier geisteswissenschaftlichen Publizistik wie das letzte mit diesem universalen Anspruch überhaupt – den Zeitungsleser auch nur als funktionale, abhängige Variable der Pressewirkung: Denn als Aufgabe der „Leseranalysen von Zeitungen“ benennt dort F. Möhring ausschließlich, sie sollten die „Wirkungen der Zeitungen beim Leser feststellen“ (S. 310 f). Damit zielt er allein auf die demoskopische Leserermittlung, also auf die Erhebung von Reichweite, Nutzung, Copytests u.a., ab. Dies sind im wesentlichen Forschungsstrategien zur Absatzoptimierung und zum Marketing, wie sie nach 1945 vor allem von P. Neumann und E. Nocllc-Neu- mann hierzulande eingeführt und verbreitet wurden. Inzwischen praktizieren diese Art statistischer Markt- und Konsumforschung bekanntlich zahlreiche Meinungsund Absatzforschungsinstitute mit größter Perfektion und Intensität für alle Medienprodukte.
Über die Historiographie des Zeitungslesens womöglich auch über seine Archäologie – verlautet in diesen Handbüchern wie auch in neueren Kompendien recht wenig; ebenso sind seine soziale Phänomenologie, seine Ethnographie, also die alltäglichen Typen, Formen und Situationen des Zeitungslesens, kaum erschlossen. Der Zeitungsleser als pressegeschichtlicher Phänotyp wie auch als analytischer Fokus, als Paradigma der Kommunikationsforschung, wozu ich ihn erklären möchte, ist noch über weite historische Strecken und in vielen sozialen Dimensionen unentdeckt. Dieser Befund verwundert eigentlich angesichts der verbreiteten, fast universalen sozialen Existenz der Zeitungslektüre wie auch angesichts der Vielzahl von kommunikationswissenschaftlichen Forschungsbemühungen ein wenig, allerdings nur auf den ersten Blick, wie ich zeigen möchte.
Zwar finden sich in verschiedenen Diziplinen inzwischen etliche Bruchstücke über die Zeitungslektüre, aber sie differenziert zu ergründen und synoptisch in ihrer Entwicklung zu verfolgen, soweit dies die Quellen zulassen, stellt ein dringliches sachliches Desiderat für die Kommunikations- und Mediengeschichte, aber auch für eine historisch orientierte Rezeptionsforschung dar. …