Einleitung:
“Es ist nicht unmöglich, daß Sie meinen Namen bereits gehört haben.”
Brief Albert Ehrensteins an Dorothy Thompson vom 26. April
Diese zaghafte Einschätzung Albert Ehrensteins (1886-1950) ist beispielhaft für die Art, wie sich der Dichter und Publizist der Öffentlichkeit seiner Zeit gegenüber verhalten hat: zurückhaltend, bescheiden, fatalistisch, desillusioniert. Trotzdem er damals, 1939, als er in der Emigration diese Zeilen verfaßte, in österreichischen und deutschen Literaten- und Zeitungskreisen schon lange kein Unbekannter mehr war. Er blickte auf eine wechselhafte Feuilletonistentätigkeit zurück, auf intensive Kontakte zu literarischen und publizistischen Zirkeln und auf Bekanntschaften mit vielen berühmten Zeitgenossen.
Albert Ehrenstein, der geistreiche, aber schwarzmalende und sinistre Lyriker, Autor und Journalist, ist heutzutage schlichtweg vergessen.
Heute, in Perioden literaturhistorischer und kommunikationsgeschichtlicher Spurensuche im unwegsamen Gelände, ist die biographische Forschung über die Person Ehrenstein zwar schon wesentliche Schritte weiter, ein abgerundetes Bild über seine spezielle Bedeutung läßt sich aber noch immer nur schwer ausmachen. Ebensowenig hat es die gelegentliche, posthume Publikationstätigkeit von unverdrossenen Verlegern geschafft, Albert Ehrenstein dem ihm gebührenden Platz in der österreichischen Literaturgeschichte zuzuweisen. So dürfte cs auch der Medien- und Kommunikationsgeschichte als Aufgabe zukommen, im Rahmen ihres Forschungsbereiches auf die Bedeutung Ehrensteins für die expressionistische Publizistik hinzuweisen.
Gemäß den methodischen Erfordernissen einer case study, bei der ausgehend von der Rekonstruktion eines Lebenslaufes von verschiedenen Einzelperspckti- ven auf soziologisch allgemeingültige Variablen geschlossen werden kann, die im besten Falle Deutungen des gesellschaftlichen Umfelds, sozialpsychologischcr Faktoren und “objektiver” Prozesse ermöglichen, muß hier einschränkend gesagt werden: Die vorliegende biographische Annäherung liefert kaum mehr als eine Exemplifikation. Es bleibt, auf die (neuere) Forschung über Albert Ehrenstein zu verweisen: Sie setzt sich mosaikhaft zusammenen aus literaturwissenschaftlichen Analysen von Teilaspekten seines Werkes , aus biographischen Untersuchungen verschiedenster Ausprägung und aus einigen Vor- und Nachworten in Anthologien oder Kurzpassagen in diversen Lexika oder Nachschlagewerken zur Literaturgeschichte4. Nachdem viele der autobiographischen und persönlichen Quellen über Albert Ehrenstein bislang nur mit Schwierigkeiten und viel Aufwand zugänglich waren, ist die Initiative der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem, die seit 1957 Ehrensteins Nachlaß verwaltet, diverse Parerga und Miscelannea zusammen mit den Briefen dem publizistischen und literarischen Gesamt werk in einer großen Werkausgabe zugänglich zu machen, sehr zu begrüßen.
In der Folge soll versucht werden, eine zur Konstruktion des Gesamtbildes der Person Ehrensteins unerläßliche Annäherung an sein publizistisches Schaffen zu liefern, das schließlich ein Gutteil seiner literarischen Sozialisation ausmachte. Jener Ansatz legitimiert sich nicht nur aus der Tatsache, daß er in den Publizistenzirkeln der zehner und zwanziger Jahre in Wien und Berlin eine beachtenswerte Rolle spielte, sondern auch daraus, daß cs gerade für die vor Methoden viel fall oft zurückschreckende Kommunikationsgeschichte lohnend sein müßte, gelegentlich biographisch zu arbeiten.
Eine Journalisten- oder Autobiographie zu verfassen, die den Ansprüchen der Medien- und Kommunikationsgeschichte genügt, verlangt, mehrere Einzelaspekte zu berücksichtigen, die zur Hypothesenstützung aus Paralleldisziplinen übernommen werden können. Zum Beispiel die Sozialpsychologie, die Persönlichkeitstheorie und Kulturanthropologie, die Soziologie, die Empirie und (Kultur-)Geschichtc sowie die Literaturgeschichte bieten Ansatzpunkte, um aus der biographischen Analyse ein brauchbares Mittel zur Erkenntnis übergeordneter sozialer Zusammenhänge zu machen, wie sie von sozialwissenschaftlich orientierten Vertretern dieser Methode gefordert wird6. An dieser Stelle soll gelten, daß eine biographische Analyse den Autor als Teil eines Sozialmilieus begreift, in dessen kommunikativem Handeln sich ein Niederschlag sozialer und gesellschaftsbedingter Einflüsse zeigt, worauf allerdings mit den methodenbedingten Einschränkungen ein Schluß auf die sozialen Umgebungen möglich wird.
Ein Teilbereich rückbezüglicher Analyse im Falle Ehrensteins, der einem kommunikationshistorischen Erkenntnisinteresse nahekommt, ist sicherlich seine journalistische Tätigkeit, die mehr als nur über publizistische Strukturen der betreffenden Zeit Auskunft geben kann. Die mangelnde Bekanntheit des Autors macht eine behutsame Rekonstruktion notwendig, um eine analytische Entflechtung des zeithistorischen Hintergrundes, die passende Relativierung der Subjektivität einer Autorenbiographie und eine psychologisch verwertbare Milieuschilderung zu gewährleisten, ohne den erwähnten Vorbehalt der Exemplarität außer acht zu lassen. …