Gerhard Hajicsek & Wolfgang Monschein: „Auseinandersetzung mit Bildern und Tönen ist ein Vorgang der Ineinssetzung, der Lektüre“ Überlegungen von Prof. Karl Sierek in einem Gespräch mit Gerhard Hajicsek und Wolfgang Monschein am 11.7.2002 in Wien

Einleitung:

medien & zeit: Herr Professor Sierek, welchen Film haben Sie zuletzt im Fernsehen gesehen?

Sierek: Ich muss Ihnen sagen, dass ich mich nicht daran erinnere, da ich sehr selten fernsehe und mir daher auch kaum Filme im Fernsehen ansehe. Ein Effekt der Flüchtigkeit, wenn Sie so wollen, und vor allem die Konsequenz meiner leidenschaftlichen theoretischen Arbeit mit und an Bildern. Denn diese bringt – wie nicht wenige Medienwissenschaftler heute meinen –bdas Fernsehen nicht hervor.

medien & zeit: Und welchen Film haben Sie zuletzt im Kino gesehen?

Sierek: Den wunderbaren Gosford Park von Robert Altman, sicher einer der schönsten Filme, die ich in den letzten Monaten gesehen habe. Dieser Film zeigt, und das ist auch in unserem Zusammenhang von Bedeutung, Facetten der Flüchtigkeit und, im Gegensatz dazu, der Nachhaltigkeit. Er beschäftigt sich unter anderem mit einigen interessanten Aspekten der Relativierung medialer Erinnerung. Dabei evoziert er eine spezifische Art der Gedächtnisarbeit, die interessanterweise in den Rezensionen, die ich zu diesem Film gelesen habe, nicht zur Sprache gekommen ist. Es handelt sich nämlich um eine mehr oder minder versteckte Art eines Remakes eines Filmes aus dem Jahr 1938, Regle du Jeux von Jean Renoir.

medien & zeit: Welchen Film haben Sie im Kino am öftesten gesehen?

Sierek: Das müsste Bringing up Baby von Howard Hawks gewesen sein. Und ich sage Ihnen auch, warum ich mir diesen Film so oft angesehen habe. Das ist wichtig für mein Wissenschaftsverständnis: Weil er mir so gut gefallen hat und weil ich mit ihm und durch ihn viel gelacht habe. Ich glaube nämlich, dass diese Lust am medialen, am filmischen Ereignis Auge und Ohr öffnet für die Bauweise und die Wirkung bzw. Wirkungsgeschichte eines solchen Produktes. Dieses sehr persönliche Erlebnis mit dem Film von Hawks ist allerdings schon lange her; es kommt heute kaum noch vor, dass ich mir einen Film im Kino zehn- bis fünfzehnmal ansehe. Damals war das übrigens auch ein wissenschaftliches Erfordernis, vor allem in der jungen Disziplin der Filmanalyse. Die technische Entwicklung, etwa rasante Verbreitung des Videorecorders, hat hier natürlich radikale Änderungen der Arbeitstechniken der Filmwissenschaft mit sich gebracht. Insofern sind die Fragen des Erinnerns, des Gedächtnisses, der Speicherung natürlich auch eine Facette der Technikgeschichte der Medien.

medien & zeit: Warum sehen Sie sich einen Film eher im Kino als im Fernsehen an?

Sierek: Das ist eine sehr komplexe Frage. Es ist nicht mehr so, dass ich das Kino als heiligen Gral, als Refugium, als idealen Ort für die Vorführung von Filmen erachte. Diese fetischistische Sichtweise des Kinos als einzigem Ort, an dem man Filme sehen kann, ist mir inzwischen abhanden gekommen. Wenn man die Wahl hat, sich einen Film als schlechte, abgespielte Kopie in deutscher Synchronfassung im Kino oder gut gemastert, also digital aufbereitet, im Original über einen Videobeamer anzusehen, ist wahrscheinlich letzteres vorzuziehen. Dennoch bietet die Pseudovielfalt der Kanäle im Fernsehen niemals das, was ein Filmtheoretiker braucht, wenn er den Stand der Diskussion über Kino in ästhetischer, restauratorischer oder filmhistorischer Hinsicht verfolgen will. Denn die omnipräsente Verfügbarkeit, wie sie von manchen Medieneuphorikern proklamiert wird, ist eine auf rein technische Aspekte reduzierte Vision, die den Diskursen in Bezug auf das Medium Film in keinster Weise gerecht wird.

medien & zeit: Zum Thema der Wirkmächtigkeit von audiovisuellen Medien: Wie ist es möglich, dass ein Satz wie „Ich seh Dir in die Augen, Kleines“ auch für heute fünfzehnjährige Internetkids zum Mythos wird? …