1. Nach Ansicht der sog. Neuen Realisten, wie z. B. M. Gabriel oder P. Boghossian, ist die postmoderne Philosophie, unter die umstandslos auch „der Konstruktivismus“ subsumiert wird, verantwortlich für die Auffassung, dass unser Umgang mit Wirklichkeit und Wahrheit völlig beliebig ist, weil wir „[…] alle Fakten oder Tatsachen selbst konstruiert haben.“ (Gabriel 2013, 56)1 So ist nach Ansicht Gabriels
„[…] der Konstruktivismus absurd, er wird meist aber nicht durchschaut. […] Der Wahlspruch der fröhlichen Konstruktivisten lautet: Jeder sein eigener Faust oder seine eigene Novemberrevolution. Es ist eben alles eine Frage der Wahrnehmung.“
(Gabriel, M. (2013). Warum es die Welt nicht gibt. 8. Auflage. Berlin., 156 f – Leider zitiert Gabriel keine/n einzige/n KonstruktivistIn und nennt keine einzige einschlägige konstruktivistische Publikation.)
Neben diesem (pseudo)philosophischen Beliebigkeitsgenerator wird in der gegenwärtigen Diskussion ein zweiter, weitaus mächtigerer Beliebigkeitsgenerator beobachtet und debattiert: die IT-Technologien. Allein die Beobachtung sozialer Netzwerke lässt offenbar keinen Zweifel daran, dass die Kriterien für die Darstellung und Beurteilung von Wirklichkeit und Wahrheit in Medienkulturgesellschaften insgesamt problematisch geworden sind. Unser Alltagsrealismus ebenso wie der philosophische Realismus stehen vor einem bemerkenswerten Dilemma: Die Verantwortlichkeit der Producer von Nachrichten, Bildern, Behauptungen und Bewertungen für die Wahrheit und Verlässlichkeit ihrer Messages wird schrittweise aufgeweicht bis ridikülisiert, wobei diese Praktiken bekanntermaßen im Weißen Haus politisch funktionalisiert und gerechtfertigt werden. Jedes Medium, so scheint es, produziert (s)eine eigene Welt, seine eigenen Zeiten und Räume, was notwendig dazu führt, dass Wirklichkeitserfahrungen modalisiert und die Frage nach Referenz, Authentizität und Wahrheit problematisch wenn nicht sogar irrelevant wird. Simulation und Virtualität lauten die neue Schlagwörter. Das zeigt sich etwa daran, dass sich die Kommunikationsziele von Werbung oder PR nicht mit Realismus-Kategorien erfassen lassen, sondern neue Beurteilungskriterien erfordern.
Nun könnte man mit Achselzucken konstatieren, dass die Entwicklung der letzten Jahrzehnte (spätestens seit dem Fernsehen) uns eben zwangsläufig in diese Situation gebracht hat, und dass es kleinkariert wäre, hier Alarm zu schlagen und zum Widerstand aufzurufen. Aber können wir eine solche Zurückhaltung im Bereich der Erfahrung, Rechtfertigung und Bewertung von Wirklichkeit rechtfertigen? Geht es wirklich nur um Philosopheme und technische Spielereien? Welche Konsequenzen ergeben sich für Individuen und Gesellschaften, wenn basale Differenzen wie Wahrheit/Lüge, Fakten/Fiktionen, Vertrauen/Misstrauen, Verantwortung/Beliebigkeit u. ä. nicht mehr randscharf bestimmt werden bzw. bestimmt werden können oder sollen?
2. Im Folgenden versuche ich kurz zu umreißen, wie sich der (genauer: mein) Konstruktivismus zu der genannten Problematik verhält.
Der zugegebenermaßen missverständliche Begriff Konstruktion bezeichnet eben nicht eine willkürliche Herstellung von Wirklichkeit, sondern das vielfältig bedingte und Konsequenzen-reiche Er-Leben von Wirklichkeit mit und ohne Hilfe von Medien in konkreten sozio-kulturellen Kontexten, die mit den in ihnen gültigen soziokulturellen Ordnungsmustern, Erwartungen und Normen eine Einschränkung individueller Willkür und Beliebigkeit bewirken und gemeinsames Handeln ermöglichen.
Wenn wir über Wirklichkeit reden, reden wir immer über Wirklichkeit-für-BeobachterInnen. Die ständige Berücksichtigung der Beobachter-
in/des Beobachters heißt nicht etwa, dass es ohne BeobachterIn keine Wirklichkeit gibt, sondern dass ohne BeobachterIn von Wirklichkeit nicht die Rede ist. Der oder die Beobachter-In ist nach dieser Auffassung verantwortlich für ihr/sein Er-Leben von Wirklichkeit in sozio-
kulturellen Kontexten im Hinblick auf Handlungs- und KommunikationspartnerInnen.
Die historisch entstandene moralische Verpflichtung zu Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit ermöglicht und bestätigt soziales Handeln und interpersonale Kommunikation. Wahrheit wird dabei nicht als metaphysische BeobachterInnen-unabhängige Entität konzipiert, sondern als der Stand der Dinge, der nach akzeptiertem Wissen der beteiligten Beobachter-
Innen sowie unter glaubwürdiger Voraussetzung ihrer glaubwürdigen Wahrhaftigkeit als wahr akzeptiert wird.
Aus diesen Überlegungen folgt für mich im Hinblick auf das Thema dieses Bandes zwingend: Nur wenn die Differenz Fakten/Fiktionen/Fakes semantisch präzisiert und kulturell akzeptiert wird, kann es in Gesellschaften eine soziale Auszeichnung von Handlungsräumen für die Produktion, Kommunikation und Rezeption von Fiktionen in Gestalt von Literatur und Kunst i. w. S. geben. Erst dann kann auch das Spiel mit Variationen dieser Differenz sinnvoll und nicht nur subjektiv willkürlich gespielt werden, wobei popkulturelle Phänomene eine besondere Rolle spielen. Erst und nur dann können sich popkulturelle Phänomene als mediale Phänomene überhaupt erst konstituieren, und zwar „…in Spannungsgefügen aus kreativem und lustvollem Spiel mit Behauptungen, Versprechen und Fakes einerseits sowie der Sehnsucht nach Authentizität und Ordnung andererseits“, wie Beate Flath und Christoph Jacke in ihrer Einladung zu diesem Band schreiben. In jeder mediendurchwirkten Gesellschaft muss daher die Frage beantwortet werden, was Referenz und Authentizität im Rahmen mediatisierter Konstruktionen von Wirklichkeiten bedeuten können; und diese Antwort kann und darf nicht beliebig sein; denn es geht bei dieser Problematik nicht um philosophische Querelen, sondern um ein verantwortliches (Über)Leben in Medienkulturgesellschaften, die ihre Mitglieder kognitiv, emotional und moralisch an Grenzen treiben.