Gerald Schubert: Prag:Wien Zwei europäische Metropolen im Lauf der Jahrhunderte. Die Österreichische Nationalbibliothek präsentiert Spuren eines komplizierten Verhältnisses

Einleitung: Am Anfang der chronologisch eingerichteten Ausstellung steht der Besucher sozusagen an der Wiege des Hauses selbst. Das im Jahre 1368 fertiggestellte Evangeliar des Johann von Trop- pau ist der älteste nachweislich habsburgisch- österreichische Codex und gilt als Gründungshandschrift der Österreichischen Nationalbibliothek. Entstanden ist diese allerdings in Prag, im frühhumanistisch geprägten Klima des Hofes von Kaiser Karl IV., und sie ist „unzweifelhaft eines der Hauptwerke der böhmischen Buchmalerei der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ (Gamillscheg, 2003,S. 107).

Gerade jene Epoche ist es, in der sich in den Beziehungen zwischen Prag und Wien einige der Charakteristika voll entfalteten, die auch in nachfolgenden Perioden kennzeichnend für das Verhältnis der beiden Städte waren. Karl IV, König von Böhmen und römisch-deutscher Kaiser, war ein fortschrittlicher, gewandter und vor allem hoch gebildeter Staatsmann, seine Zeit gilt noch heute als politische und kulturelle Hochblüte der böhmischen Geschichte. Bezeichnenderweise sind es tatsächlich Familienbande, in denen sich bereits damals die verwandtschaftliche Nähe zwischen der Moldau- und der Donaumetropole manifestierten – mit allen Vertraulichkeiten, aber auch mit allen Anzeichen von Konkurrenzdenken und Streben nach Selbstbehauptung. Denn der zur selben Zeit in Wien residierende Schwiegersohn Karls IV, Rudolf IV, hatte während seines kurzen und von Krankheit überschatteten Lebens ebenfalls einen überaus ambitionierten und dennoch stets am Erreichbaren orientierten Regierungsstil ausgeprägt, ln seinem Schwiegervater Karl fand er hier unzweifelhaft ein Vorbild. Diverse parallele, oder in chronologischer Hinsicht doch nahezu parallele, Entwicklungen in beiden Städten zeugen von diesem Verhältnis. Ob etwa der Stephansdom in Wien den imposanten

St.-Veits-Dom auf der Prager Burg nun übertreffen sollte oder sich einfach an ihm und damit am vorherrschenden Stil der Zeit orientierte, das ist letztlich eine Frage der Interpretation. Diese unbeachtet ad acta zu legen ist aber schon deshalb unmöglich, weil sie sich im Bezug der auch geographisch einander so nahen Städte weit mehr als einmal stellt. So etwa auch im Zusammenhang mit dem Entstehen der ersten mitteleuropäischen Hochschulen: Karl IV. gründete im Jahre 1348 die Prager Universität, 17 Jahre später zog Rudolf mit der Wiener Universität nach. Letzterer allerdings blieb die Einrichtung der wichtigsten, also der theologischen Fakultät, zunächst verwehrt; die Tatsache, dass Karl IV. während seiner Ausbildungsjahre in Paris vom späteren Papst Klemens VI. unterrichtet worden war und beste Kontakte zum I leiligen Stuhl pflegte, darf hier wohl nicht unerwähnt bleiben. …