Einleitung: Der folgende Artikel untersucht die Ereignisse seit der Regierungsbildung von ÖVP und FPÖ im Februar 2000 unter dem Blickwinkel von Gegenöffentlichkeit und Zivilgesellschaft, zwei zentralen Begriffen im Selbstverständnis der Protestbewegung. Die Bewegung ist jung, und es gibt nur wenige theoretische Reflexionen über deren Grundlagen. Wichtig und viel gelesen sind in diesem Zusammenhang etwa Österreich allein zuhause von Rubina Möhring, das einen – auch politischen – Querschnitt der Auswirkungen der Wende auf Politik, Medien und Justiz zieht. Wien Feber Null von Gerald Raunig nennt sich eine Untersuchung der Ästhetik des Widerstands, die Initiativen in Grenzbereichen von Politik und Kunst, wie sie seit der Regierungsbildung unter Labels wie Performing Resistance, Volkstanz oder Gettoattack entstanden sind, analysiert. Österreich. Berichte aus Quarantanien von Isolde Charim und Doron Rabinovici schließlich versammelt Essays rund um die conditio austriaca, Geschichte, Gegenwart und Zukunft im alten und neuen Österreich.
Gegenöffentlichkeit und Zivilgesellschaft spielen in den zum Thema vorliegenden Büchern nur am Rande eine Rolle. Dies liegt vor allem daran, dass die vorliegenden Theorien zur Gegenöffentlichkeit nur teilweise auf die Phänomene der widerständischen Öffentlichkeit zu Übertragen sind. Habermas unterschied in den 60er Jahren zwischen „manipulativer“ und „kritischer“ Öffentlichkeit, entwickelte damit die Begriffe „verzerrte“ und „wahre“ Kommunikation. Oskar Negt und Alexander Kluge nannten es „bürgerliche“ und „proletarische“ Öffentlichkeit, erachteten aber den umfassenden Kontext des Handelns als wichtig.Um die Konzeption von „Wahrheit“ im Zusammenhang mit Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit geht es heute – zum Beispiel in der Theoriediskussion der Cultural Studies – nicht mehr. In der Praxis jedoch geht es vielen Protestierenden im gegenwärtigen Österreich sehr wohl um die eigene „Wahrheit“ im Gegensatz zu den „Lügen“ der Regierungsparteien. Slogans wie „Lord of the Lies“ bezogen sich auf Jörg Haider oder „Diese Regierung lügt“ geben Zeugnis davon, dass Wahrheit stets ein umstrittenes Gut ist.
Ich verwende den Begriff Gegenöffentlichkeit im Sinne einer nicht-staatlich organisierten oder institutionalisierten, nicht-parteipolitisch gesteuerten Öffentlichkeit, die sich sowohl des öffentlichen Raums der Straßen und Plätze, als auch verschiedener alternativer und Mainstream-Medien bedient.
Erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik ist innerhalb der Gegenöffentlichkeit – zumindest innerhalb derjenigen, die explizit gegen die Regierung von ÖVP und FPÖ auftritt – sehr wenig institutionalisiert. Es gibt wenige Vereine (die sich aber eher solidarisch und weniger aktiv im Protest gegen die Regierung verhalten), aber dafür viele Verbände, Initiativen und lose Gruppen sowie ein großes Pool von grundsätzlich an Aktionen Interessierten, die von Fall zu Fall aktiv werden. Eine hohe Kommunikationsbereitschaft zeichnet diese neue Zivilgesellschaft aus, die auch die globalen Kontakt- und Austauschmöglichkeiten gut zu nützen weiß.
Der Journalist Hans Rauscher nennt Österreich eine „verspätete Zivilgesellschaft“, was die Durchdringung der Institutionen des öffentlichen Bereichs, der Bürokratie, der Politik generell mit rechtsstaatlichem Denken, mit Bürgersinn und einer Auffassung von liberaler Demokratie betrifft. Boris Buden wiederum sieht den „Arger“ mit der Zivilgesellschaft – neben dem „ambivalenten Charakter des Begriffs“ in der politischen und ideologischen Besetzung dieses Begriffs – in Österreich etwa durch den ÖVP-Politiker Andreas Khol, der die Idee der „Bürgergesellschaft“ vertritt. Es sei, so Buden, vielmehr die „globale politische und ideologische Szene, auf der Zivilgesellschaft nicht nur als Mainstream-Begriff, sondern gleich als neue Supermacht auftritt, und wo sie ihre volle Kraft und Wirkung entfaltet.“ Und weiter heißt es: „Der Aufbruch der österreichischen Zivilgesellschaft, von dem man sich eine Subversion des jetzigen politischen Status quo erwartet, scheint also wie abgeschrieben vom hegemonialen Konzept einer globalen Zivilgesellschaft als dekorative KontroIlmacht, mit dem sich der Status quo des globalen Kapitalismus und seiner neoliberalen Ideologie schmückt.“
Seine Schlussfolgerung daraus: „In und mit der Zivilgesellschaft lässt sich somit nichts politisch Relevantes bewegen, da die Zivilgesellschaft nur noch den Leerlauf der heutigen Politik darstellt — die wahre Form der Entpolitisierung„. …