Einleitung: In der Einforderung der Legitimität des europäischen Integrationsprozesses wird die Geltung des Öffentlichkeitsprinzips über das Postulat eines Strukturwandels nationalstaatlicher Öffentlichkeiten aufrecht erhalten. Eine europäische Öffentlichkeit – so die Erwartung – bilde sich weniger als einheitlicher, massenmedialer Kommunikationsraum aus, als vielmehr in der Bereitstellung entsprechender infrastruktureller Kapazitäten für die mehrstufige Vermittlung des komplexen Regierens im Mehrebenensystem der EU. Fortschreitende Integration bewirke nicht nur die Vernetzung nationaler Öffentlichkeitsarenen, sondern fördere auch die Herausbildung neuer sektoraler oder transregionaler Kommunikationsgemeinschaften, die sich zunehmend von der Sprache und Kultur des Nationalstaats loslösen (Eder, Hellmann, Trenz, 1998). Innerhalb der empirisch ausgerichteten Medien- und Öffentlichkeitsforschung ist diese zumeist normativ begründete Erwartung in die Transnationalität politischer Öffentlichkeit allerdings regelmäßig empirisch entzaubert worden. Die Diskrepanz zwischen der Geltung des Öffentlichkeitsprinzips und seiner Anwendbarkeit im transnationalen Rahmen erfordert damit eine systematische Abhandlung. Die Frage stellt sich nach den Bedingungen und Grenzen eines durch den europäischen Einigungsprozess angeleiteten Strukturwandels politischer Öffentlichkeit.
Europäische Öffentlichkeit bezeichnet die kommunikative Infrastruktur zur Aushandlung der Legitimität des europäischen Integrationsprojekts. Sie ist gebunden an die Mobilisierung öffentlicher Aufmerksamkeitspotentiale, über die sich europäische Entscheidungsakteure den diffusen Erwartungshaltungen und den Meinungen des Publikums stellen. Dabei handelt es sich um einen reziproken Prozess der Provokation, Reaktion und Antizipation von Aufmerksamkeiten, in dem europäische Institutionen einerseits „auffällig“ werden und entsprechende Abwehr- und Widerstandsreaktionen absorbieren müssen, andererseits aber auch gezielte Aufmerksamkeiten des Publikums einfordern, um ihre jeweiligen Positionen zu stärken und Handlungsspielräume auszubauen. Gerade auch im transnationalen Rahmen bleibt ein solcher Prozess der Legitimationseinforderung und Legitimititätsherausforderung auf die Vermittlung durch die Massenmedien angewiesen, welche einerseits die Relevanz europäischer Entscheidungsprozesse für die jeweils fragmentierten Publika (national, lokal oder sektoral) übersetzen. Durch die medialen Operationen der Ausfilterung, Bündelung und Amplifikation von Kommunikation wird der diffusen Resonanz des Publikums eine Strukturierung verliehen und damit ihr Wirkungspotential auf das politische System der EU freigesetzt.
Die Bemühungen einer Eingrenzung der konstitutiven Elemente europäischer Öffentlichkeit sind typischer Weise durch eine Ambivalenz zwischen normativen und deskriptiven Ansätzen gekennzeichnet. Normativ erfolgt eine Identifizierung europäischer Öffentlichkeit über die Festlegung bestimmter Standards der Kommunikation und Vermittlung politischer Inhalte, die für die Legitimität der Europäischen Union als hinreichend erachtet werden. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Frage nach der qualitativen Bestimmung europäischer Öffentlichkeit, wobei sich die Forschung traditionell an der Habermas’schen Programmatik, also an dem Verständigungspotential deliberativer Meinungsbildungsprozesse, abgearbeitet hat (Vgl. Risse, 2004; Peters, Sifft, Wimmel, Brüggemann, Kleinen von Königslöw, 2005; Eriksen, 2005). Deskriptiv wird die europäische Öffentlichkeit über die Vernetzung von Sprechern unterschiedlicher Herkunft identifiziert, die in einen kommunikativen Austausch über Themen von gemeinsamer Relevanz treten und dabei bestimmte Meinungen und Erwartungshaltungen zum Ausdruck bringen. Entscheidend ist dabei die Frage nach der Quantifizierung politischer Kommunikation, die über die Konvergenz von Themen- und Aufmerksamkeitsstrukturen (Issue-cycles), Bewertungen politischer Prozesse (frames) und Rechtfertigungsmustern bestimmt wird (Vgl. Eder, Kantner, 2000; Trenz, 2004; Trenz, 2007).
In der Gegenüberstellung zwischen qualitativen und quantitativen Ansätzen der Öffentlichkeitsforschung gilt es allerdings zu beachten, dass die Normativität politischer Öffentlichkeit nicht nur theoretisches Konstrukt ist, sondern vielmehr mit der Legitimationspraxis kollektiver Akteure untrennbar verbunden ist und damit erst die Dynamik eines sich entfaltenden europäischen Kommunikationsraums anleitet. Die Spannung zwischen normativen Standards und kommunikativer Alltagspraxis politischer Vermittlungsprozesse kann folglich als ein konstitutives Element der Entstehung europäischer Öffentlichkeit angesehen werden. Als Startpunkt europäischer Öffentlichkeitsforschung empfiehlt es sich von daher, sich den ideengeschichtlichen Hintergrund des Öffentlichkeitsgedankens zu vergegenwärtigen, der im europäischen Kontext angewandt und validiert wird.
Im Folgenden soll die unterstellte Beziehung zwischen Nationalstaat und Öffentlichkeit auf ihre Konsistenz untersucht und Möglichkeiten einer Loslösung der Normativität des Öffentlichkeitsgedankens vom nationalstaatlichen Idealtypus aufgezeigt werden. Dabei geht es weniger darum, einen vermeintlichen methodologischen Nationalismus der Sozialwissenschaften anzuprangern, als vielmehr die Argumente zu sortieren und kritisch zu prüfen, die für eine Verteidigung der nationalen Fokussierung der Öffentlichkeitsforschung vorgebracht werden können. Der Transnationalisierungsthese seien dabei einerseits empirische Evidenzen der Trägheit des Wandels nationalstaatlicher Öffentlichkeit entgegengesetzt, deren Strukturen und Prozesse in der Medienökonomie westlicher Gesellschaften fest verankert sind. Die Transnationalisierungsthese muss sich des Weiteren aber auch mit der inhärenten Normativität von Öffentlichkeit auseinandersetzen, die sich nach wie vor an den Bedingungen von Nationalstaatlichkeit orientiert, um die Legitimität politischer Herrschaft im Transnationalen auszuhandeln. …