Einleitung: Simon ist sechs Jahre alt und ein echter Pokemon- Fan. Er zögert kein bisschen, als er gefragt wird, was er sich wünschen würde, wenn eine Fee käme und er drei Wünsche frei hätte: „Ich würde mir wünschen, dass ich alle Pokemons der Welt hätte, weil ich Pokemons liebe. Ich täte mir wünschen, dass ich drei lebendige Pokemons hätte: ein lebendiges Garados, ein lebendiges Dialga und ein lebendiges Palkia. Dann täte ich mit meinem Garados baden können und mit dem Dialga und mit dem Palkia täte ich durch Raum und Zeit reisen können – dahin, wo die Libelldra wohnt. Da will jedes Kind hin: wegen den Elfen. Die erfüllen einem jeden Wunsch – nicht nur drei. Die erfüllen einem jeden Tag Wünsche und die bleiben bei einem, bis man uralt ist.“
Simons Redefluss ist kaum zu stoppen, wenn es um Pokemons geht. Für ihn sind seine Pokemons mehr als nur populäre Helden der Kindermedienkultur, er sieht in ihnen echte Gefährten seines kindlichen Alltags (vgl. Paus-Haase, 2002).
Simon wirkt wie ein durchschnittlicher Sechsjähriger, der in die so genannte Medien- und Konsumgesellschaft hineingeboren und mit Kindermedienmarken sozialisiert wurde. Zumindest auf den ersten Blick bzw. solange man über die Lebenssituation seiner Familie wenig weiß. Simon wächst nämlich in einer sogenannten Randlage auf. Simons Eltern sind Drop-outs: Sie haben die Schule abgebrochen und nie einen „richtigen“ Beruf gelernt. Ein geregeltes Erwerbsarbeitsleben in unselbständiger Beschäftigung und damit verbunden ein fixes Erwerbseinkommen ist in der Welt, in der sie leben, ein Fremdwort. In ihren beruflichen Karrieren sind sie über eine lose Aneinanderreihung von Gelegenheitsjobs nie hinausgekommen. Nie waren sie über längere Zeit in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis und haben daher auch nicht ausreichend Arbeitslosenversicherungszeiten angesammelt, um Arbeitslosengeld beziehen zu können. Mit „Tupper-Ware-Parties“ und „illegalem Kraftfahrzeugfahren“ bestreiten sie einen Gutteil ihres Lebensunterhalts. Erstaunlich selbstbewusst stehen sie dazu, dass sie auch in illegale Bereiche der Schattenwirtschaft ausweichen, um ihre kleine Familie zu finanzieren. Beide Eltern sind gerade einmal Mitte Zwanzig und scheinen sich dennoch damit abgefunden zu haben, dass sich ihre Lebenssituation zukünftig wohl kaum maßgeblich ändern wird. Lebensziele, die „Otto Normalverbraucher“ anspornen, sind ihnen fremd: morgens aufzustehen, um zur Arbeit zu gehen, einen Job zu finden, in dem man sich mit all seinen Qualifikationen einbringen und selbstverwirklichen kann oder das Geld, das man hat einzuteilen und für später etwas zurückzulegen.
Auf den nicht-legalen Status seines Broterwerbs angesprochen, meint der Vater: „Wie es mir geht mit der Arbeit? Solange mich die Polizei nicht erwischt, gut. Es ist nicht fad […] – jeden Tag verschiedene Arbeit: das ist das Beste. Weil du machst [morgen; Anm. B.G.] nicht, was du heute gemacht hast. […] Und du weißt nicht, was du machen wirst. Du bist gespannt, was kommt. Das ist das Tolle daran.“ Die Sozialwelt, in der unser kleiner Pokemon-Fan Simon aufwächst, wirkt wie ein Pendant zur Gesellschaft der vollwertig Integrierten und Inkludierten: als eine Gesellschaft der sozial und kulturell Abgehängten und Desintegrierten, die losgelöst ist von den Fragen, Themen und zu einem Teil wohl auch von den Werten der Mehrheitsgesellschaft. Das zeigt sich im Großen wie im Kleinen, in scheinbaren Banalitäten des Alltags, etwa wenn Simon offen und ohne Schamgefühl davon erzählt, wie er normalerweise sein Frühstück einnimmt: „Ich stehe am Morgen auf. Ich gehe aus dem Bett und die Mama schläft noch. Und dann gehe ich ins Kinderzimmer und fernsehe ein bisschen. Dann gehe ich zurück und frage die Mama, ob ich mir schon etwas aus dem Kühlschrank holen darf. Ich hole mir was aus dem Kühlschrank und dann gehe ich fernsehen.“
Simon ist eines von 16 Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen der vom Institut für Jugendkulturforschung – jugendkultur.at durchgeführten qualitativen Grundlagenstudie „Soziale Exklusion aus lebensweltlicher Perspektive“ (Großegger, 2009) über ihren Alltag in einer Familie in exklusionsgefährdeter Lage berichteten und er ist zugleich eines von jenen Kindern und Jugendlichen in Österreich, die in einer sozialen Randlage aufwachsen (müssen) und somit Kinder des „abgehängten Prekariats“ sind. …