Frank Hartmann: Mediale Aufhebungen Ein Essay zur Transformation der kulturellen Speicher

Einleitung:

„Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf; […] Durch die Bildung zum aufrechten Gange bekam der Mensch freie und künstliche Händey Werkzeuge der feinsten Hantierungen und eines immerwährenden Tastens nach neuen klaren Ideen.“
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784)

Es ist ein direkter Effekt neuer Medien, wenn derzeit die Ökonomie des kulturellen Gedächtnisses neu diskutiert wird. Noch nie hat es die mediale Reproduktionstechnik so leicht gemacht, einen intensiven Gebrauch von der Vergangenheit zu machen – was gleichzeitig bedeutet, dass das Monopol der akademischen Historiker auf die Vergangenheit brüchig geworden ist. Immer mehr Dokumente und Klassiker sind online abrufbar, ein immer größerer Teil des kulturellen Erbes steht in digitalisierter Form zur Verfügung. Ritualisierte Formen der Vergangenheitsbewältigung, Öffnung der Archive, juristische Aufarbeitungen, eine Konjunktur der Museen etc. lassen den französischen Historiker Pierre Nora von einer Gedächtniskonjunktur und von einer Kultur des fast zwanghaften Gedenkens sprechen. Die gesteigerte Verfügbarkeit über die kulturellen Speicher und die Demokratisierung des Zugriffs auf die Inhalte des Wissens durch die neuen medialen Technologien tragen das Ihre dazu bei. Allerdings geht es dabei nicht allein um das Erinnern, sondern auch um ein spezifisches Vergessen. Der Philosoph Michel Serres konstatiert eine neue Ökonomie des Vergessens, wobei er die Art und Weise der Auslagerung in die medialen Speicher und die jüngste Transformation von Datenträgern — kurz die neuen Medien — als eine Fortsetzung des Projekts der Menschwerdung interpretiert, die auf eine noch unbestimmte Art befreiend wirken könnte. Aus der Spannung zwischen diesen beiden Begriffen des Erinnerns und des Vergessens motiviert sich der folgende Beitrag. Speichern dient dem Erinnern, es heißt Daten aufheben und für andere Zeitpunkte verfügbar machen. Dazu werden Markierungen verschiedenster Art gesetzt, immer mit dem Ziel, Zeichen zu schaffen, die zu einem späteren Zeitpunkt, an einem anderen Ort und für andere Menschen lesbar sein sollen: zunächst Bilder, die sich deuten, sodann Texte, die sich lesen lassen. Dazu sind jetzt die neuen Technologien mit neuen Datenträgern und einer neuen Ordnung des Archivs nach der Logik von Datenbanken getreten. Diese Technisierung des Erinnerns bedingt ein individuelles Vergessen, weil mit der medialen Speicherung das Memorieren von Wissen als traditionelle Tugend obsolet und sogar dysfunktional geworden ist. Aber jetzt scheint auch der nächste Schritt vom selben Schicksal ereilt zu werden, denn das traditionelle Gefüge der Druckkultur ist mit den neuen Medien, mit der Vernetzung von Computern, durcheinander geraten. Inwiefern setzen die neuen Technologien das alte kulturtechnische Projekt fort? Welche Rolle spielen sie im Prozess der Menschwerdung, die der Restriktion oder die einer kognitiven Freisetzung? …