Matthias Michel: Goodbye Norma Jean Kino. Gegenwart. Absolut.

Einleitung:

– Was verstehen Sie unter „Film “?
– Ein Film ist eine versteinernde Quelle des Denkens, Ein Film erweckt tote Handlungen zum Leben, Ein Film erlaubt es, dem Unwirklichen die Erscheinung der Wirklichkeit zu verleihen.
– Und was nennen sie „das Unwirkliche“?
– Dasjenige, was jenseits unserer dürftigen Grenzen liegt.
Jean Cocteau, in: Le testament d’Orphee (Jean Cocteau, Frankreich 1959, 80 Minuten)

„Gewiss, wir protestieren. Wir protestieren mit Recht. Wir protestieren gegen die bedingungslose Kontinuität des Geschehens, gegen die Verbannung auf die Umlaufbahn irgendeines Drehbuchs, gegen den Kleinmut, dass jeder Dialog, jede Handlung, überhaupt jedes Ereignis in der Zeit auf einen säuberlichen Schnitt oder eine behagliche Abblende hinauslaufen und jede Geschichte von vorn beginnen muss, wenn sie zu Ende ist — kurz: Wir protestieren gegen die absolute Gegenwart als einen Bewusstseinszustand, der — oder vielleicht eher: wir protestieren gegen das Kino als Prinzip, gegen das Prinzip Kino sozusagen, durch das sich dieser Bewusstseinszustand in einem Ausmass verbreitet hat, dass — Sie wissen, was ich meine, denken Sie beispielsweise an die Stadt New York, da gab es 1906 nicht mehr als fünf oder sechs, 1908 bereits über fünfhundert Lichtspieltheater, das bedeutet eine Zunahme von zehntausend Prozent in zwei Jahren, und das war ja erst der Anfang, aber ich schweife ab. Und dennoch, bei allem Respekt, machen wir es uns nicht zu einfach, und erlauben Sie mir, das vorab in aller Deutlichkeit festzuhalten: Nur die allerwenigsten wollen in die Zeit zurück. Entgegen der in unseren Kreisen noch immer weit verbreiteten Ansicht ist die absolute Gegenwart nicht ein dermassen unerträglicher Zustand, dass jedes Angebot, in die Zeit zurückzukehren, widerstandslos angenommen würde. Im Gegenteil: Die meisten Zielpersonen schätzen den auf ein Minimum herabgeminderten Existenzzwang, will sagen: die Determination ihrer Erlebniszusammenhänge – können Sie mir folgen?— als überaus kostbare Privilegien. Ausserdem verfugen sie im Normalfall über eine erstaunlich differenzierte, ich würde sogar sagen: eine kritische — ich wiederhole: eine kritische – Einschätzung ihrer Lage. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich stelle hier nicht den Zweck und die Mittel unseres Befreiungskampfs in Frage, ich bin überzeugter Chronizist, aber lassen Sie mich das an einem Fallbeispiel erläutern. Kann ich bitte die erste Einspielung haben?“