Gaby Falböck: Die Talfahrt des Kapitals stoppen Ein Erklärungsversuch für das gleichermaßen engangierte wie paradoxe Projekt der Exilpublizistik

Einleitung: 

Was wäre wenn?
„Unter normalen Umständen wäre ich gewiss ein nützliches Mitglied der Gesellschaft geworden. Ich hätte es bestimmt zu etwas gebracht, wäre geachtet und geehrt worden, hätte einen auskömmlichen Posten in der Verwaltung und ein Häuschen vor der Stadt, in dem es sich leben ließe. Ich wäre viel gereist, nicht zuletzt, um meine Sprachkenntnisse zu vervollkommnen und meine Sehnsucht nach exotischen Gegenden zu befriedigen. Meine Gedichte wären jeden Sonntag in der Frauenbeilage des geschätzten Lokalblättchens erschienen, rechts unten, in der Ecke, zwischen Kochrezepten und ähnlichen praktischen Winken für die Hausfrau, sorgfältig gesetzt und nicht ohne eine gewisse Aufmachung, wie es sich für einen angesehenen Mitarbeiter gehört, der sich in zwanzig Jahren die Aufmerksamkeit der Abonnenten erobert hat. (…)“ (Sahl, 1994, S. 9)

Was ist:
„Ich bin ein Mensch dieses Jahrhunderts – und das ist alles. Jetzt gehe ich durch die Straßen von New York und wundere mich, dass ich noch lebe. Ich wohne in einem möblierten Zimmer, das auf den Hudson geht, zahle jede Woche vier Dollar für Miete, Licht, Bedienung und dafür, dass der Landlord gut über mich spricht, wenn die Behörden nach mir fragen. (…) Ich habe zwei geschenkte Anzüge, eine alte Schreibmaschine sowie die Hoffnung, die nächsten vierzehn Tage mit Anstand zu überleben, kaufe mir jeden Tag ein Paket Zigaretten und eine Zeitung, fahre Subway, telefoniere und benehme mich in jeder Hinsicht wie ein Mensch, der sich der Vorteile, die ihm diese Zivilisation bietet, knapp, sachlich und gelassen zu bedienen weiss. Nein, man sieht mir den Strick nicht mehr an, von dem ich abgeschnitten wurde.“ (ebd., S. 11)

Mit dieser bitteren Bilanz eröffnet der Schriftsteller und Journalist Hans Sahl seinen autobiographisch geprägten Roman „Die Wenigen und die Vielen“. Was auf den ersten Blick anmutet wie die solitäre Geschichte eines Antihelden, ist eine exemplarische Darstellung des Schicksals vieler vom NS-Regime Vertriebener. Die Emigration brachte für diese Menschen eine Zäsur, einen Bruch in den Biographien, eine Neuverteilung der Karten im Spiel des Lebens, die in der Regel keine Verbesserung der Optionen bedeuten sollte. Vermeintlich gesicherte, in ihren wesentlichsten Linien bisweilen klar vorgezeichnete, zumindest aber in eine eindeutige Richtung zielende Lebenswege wurden durch den Umbruch und den Ausschluss aus dem gewohnten sozialen System unterbrochen, endeten plötzlich im Nichts. In dieser existentiellen Krise rangen die Exilierten um ein neues Selbstverständnis. Gekämpft wurde um die Beantwortung der Frage: „Wer bin ich?“ bzw. „Wer bin ich in den Augen der Anderen?“ …