Einleitung: Es gibt kein Europa. Es gibt viele davon. So zumindest der sich aufdrängende Eindruck, wenn man sich mit einem Thema befasst, das eine lang anhaltende Konjunktur erfährt und in dessen Behandlung es nahezu eine Grundzutat bildet, zu betonen, dass Europa bislang meist wenig präzise definiert (Saxer, 2006) aus einer Pluralität von Vorstellungen gespeist worden und von wandelbarem Charakter (Requate & Schulze, 2002) oder überhaupt gar die „unbegriffenste Sache der Welt“ (Beck & Grande, 2004, S. 10), ein Dauerprozess und kein konservierter und fixierter Zustand (ebd. S. 16) sei, nicht ein Einheitliches sondern ein Unbestimmtes. Es gibt potentiell so viele Entwürfe Europas, wie es Versuche Europa zu entwerfen gibt. Und doch weisen die Entwürfe, die im wissenschaftlichen Kontext von Europa vorwiegend gemacht werden, der Logik der Disziplinen und Beobachtersensibilität der sich mit Fragen Europas beschäftigenden Wissenschaften geschuldet, augenfällige Stabilität und Kohärenz, auf. Denn Beschreibungen Europas ähneln sich bei aller thematisch, situativen Verschiedenheit der ausgeführten Ansätze darin, dass sie sich vornehmlich auf das Europa der politischen oder wirtschaftlichen Eliten zu beziehen und gleichsam zu beschränken scheinen. Europäisierung als Vorstellung wird daher auch als das Zusammenwachsen und vermehrtes Anerkennen der politischen und wirtschaftlichen Kooperationsgeflechte auf formaler (wirtschafts-)politischer, wie auch rechtlicher europäischer Ebene begriffen und gedeutet. Europäisierung, so ließe sich in Umlegung eines starken Adorno-Wortes sagen, wird im wissenschaftlichen Gebrauch häufig als die willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben verstanden: Untersuchungen, die sich mit der Konstitution einer Europäischen Öffentlichkeit befassen oder das Maß an Zustimmung oder Ablehnung in der Einstellung zu Europa ermitteln wollen, zielen dabei stark auf das Europa der Europäischen Union und seine bürokratische Lokalisationsmetapher „Brüssel“; oder auf die mediale Vermittlung dieses Europas der Eliten durch die gesellschaftliche Informationselite des informierenden Nachrichten-Journalismus (vgl. für Österreich etwa Dietrich, 2006).
Gerade angesichts der veritablen Krise des politischen Einigungsprozesses, die nach den gescheiterten Verfassungsreferenden und dem nunmehrigen irischen Nein zu den Verträgen von Lissabon für die EU diagnostiziert worden ist und den als Reaktion darauf vielfach artikulierten Bekenntnissen, man müsse nun auf die Menschen zugehen und das Projekt Europa der Wahrnehmung und dem Erleben der europäischen Völker näher bringen, um die politische Integration zu legitimieren und von breiter Basis tragen zu lassen, erscheint es auch für die wissenschaftliche Beobachtung von Europa sinnfällig, den gewohnten und etablierten Blick zu justieren. Es gilt den Blick auch auf Phänomene zu richten, die abseits der politischen und wirtschaftlichen Elitendiskurse, im alltäglichen Leben und Erleben von teilkulturellen Gruppierungen Relevanz haben. Praktiken, Lebensmomente und kulturelle (Vergemeinschaftungs)Formen in denen europäische Realität gelebt wird, ohne dass diese explizit als in Zusammenhang mit dem politischen Projekt stehend interpretiert werden.
Dieser Beitrag versucht eine zu dieser vorherrschenden Behandlungsweise alternative Perspektive auf Phänomene und Praxis von Europäisierung, sowie der Möglichkeit der Bildung einer europäischen (kulturellen) Identität anzuregen. Eine Perspektive von Unten auf „Unten“, eine Perspektive auf ein Europa im Abseits (der Aufmerksamkeit), ein Gegenentwurf zum politisch und wirtschaftlich geprägten Europabild, aus dem Blickwinkel einer Gemeinschaftswerdung, die dort ansetzt, wo Vergemeinschaftungen stattfinden: Unten, im aktiven alltäglichen (kulturellen) Leben und Erleben jener, die sonst häufig nur als Probanden oder Rezipienten Eingang in die Forschungsarbeiten finden – unten bei uns allen. …