Editorial 4/2018

Kim Karen Eckert & Christina Krakovsky

Gedenktagsjournalismus mag etwas Verstaubtes an sich haben: Jahr um Jahr werden die gleichen Ereignisse ausgegraben und rethematisiert, die gleiche Brühe wieder und wieder aufgekocht. Trotzdem lief 2018 in Österreich das mediale Erinnern auf Hochtouren. Nicht ohne Grund, denn die Presselandschaft feierte „100 Jahre Republik Österreich“. Eine Reihe von neuen Rubriken mit einem Sammelsurium von historischer Berichterstattung wurden zu diesem Thema geschaffen. Man konnte über die Gründung der Ersten Republik 1918 lesen, sich zum „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 informieren oder die 1968er-Bewegung Revue passieren lassen.

Abgesehen vom meritorischen Mehrwert, der soziokulturellen und politischen Relevanz, die eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit historischen Inhalten bietet, sprechen freilich auch kommerziell motivierte Argumente für Retrospektiven. Zuweilen befassten sich Medien zwar mit komplexen Darstellungen von unbequemen Realitäten, etwa dem erschreckenden Antisemitismus in den 1930er-Jahren, doch dem stand vor allem leichte Kost gegenüber. So lässt sich hinter manchen Berichten, die beispielsweise in nostalgischem Tonfall die „wilden 60er-Jahre“, trotz ihrer reaktionären Enge, damals noch salonfähigem Nazismus, oder offener Misogynie verklären, eher die Hoffnung auf höhere Verkaufszahlen oder Onlinezugriffe vermuten, als das Vorantreiben seriös betriebener Geschichtsvermittlung.

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