Einleitung: In seinen wiederholten Interventionen zur Frage, ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden sollte, hat der Historiker Hans- Ulrich Wehler es als ein „prinzipielles Dilemma“ beklagt, dass die europäische Politik es bislang „vermieden (oder nicht gewagt)“ habe, die geographischen, politischen und kulturellen Grenzen Europas klar zu definieren (Wehler, 2008, S. 85). Unabhängig davon, wie man zu Wehlers Positionen im Einzelnen steht, ist an dieser Feststellung mehrerlei bemerkenswert. Zunächst ist in der Tat auffällig, dass eine öffentliche Debatte über die Grenzen und die Identität Europas zwar in wissenschaftlichen Fachdebatten, lange Zeit aber kaum in einer breiteren Öffentlichkeit stattgefunden hat. Wehlers Interventionen sind insofern als Versuch zu werten, diese Debatte auszuweiten und in sie einzugreifen. Gleichzeitig weist Wehler jedoch der „europäischen Politik“ die Aufgabe zu, die Definition der Grenzen vorzunehmen und internalisiert damit bereits jenes Demokratiedefizit, das sich nicht zuletzt im häufig beklagten Fehlen einer ausgeprägten europäischen Öffentlichkeit niederschlägt. So besteht das Dilemma tatsächlich eher darin, dass die europäische Politik durchaus Entscheidungen über Grenzen Europas – gerade auch in Bezug auf die Türkei – fällt und gefällt hat, ohne dass diese Entscheidungen in eine europäische Debatte eingebunden gewesen wären.
Schon die Gründung der EWG im Jahr 1957 konnte sich zwar auf eine gewisse Europa-Begeisterung stützen, war im Kern aber eine Entscheidung der politischen Eliten. Die Frage der Erweiterung der EWG, vor allem um England, hing lange Zeit allein von der Haltung De Gaulles ab. Die Aufnahme Griechenlands, Spaniens und Portugals war nach dem Untergang der jeweiligen Diktaturen ebenso folgerichtig, wie es letztlich die Osterweiterung der EU war. Angesichts der gewaltigen Veränderungen, die der EU dadurch ins Haus standen, ist es fast erstaunlich, wie wenig diese Erweiterung von einer breiten öffentlichen Debatte begleitet war. Zwar meldeten sich skeptische Stimmen, doch bezogen die sich eher auf Einzelfragen und auf zeitliche Abläufe. Eine grundsätzliche Absage an den Willen der ostmittel- europäischen Staaten „nach Europa zurückzukehren“, hätte das europäische Projekt auf eine rein ökonomische Zweckgemeinschaft zurückgeworfen. Das in den 1980er Jahren zunehmend einsetzende Aufbegehren gegen die von der Sowjetunion maßgeblich installierten und gestützten Regime selbst war bereits als ein Drängen zurück nach Europa zu verstehen (Kundera, 1986; Die Dokumentation der daran anschließenden Diskussion siehe In: Busek & Wilfinger, 1989). Der Eintritt dieser Länder in die Europäische Union folgte so, dem Appell, vieler Intellektueller und dann, der neuen Regierungen an Europa, doch bitte nicht vergessen zu werden. Das Eintreten für und der Kampf um die Werte, die Europa für sich reklamierte, ließ der Europäischen Union um den Preis des Ausschlusses aus einer ideellen europäischen Diskursgemeinschaft so gut wie keinen Spielraum in der grundsätzlichen Frage der Erweiterung. Der aus Ostmitteleuropa an Europa dringende Appell der Zugehörigkeit konnte vor diesem Hintergrund nur ein erfolgreicher sein.
Für die Frage des EU-Beitritts der Türkei ist die Geschichte der Erweiterung der EU, insbesondere der Osterweiterung, in doppelter Hinsicht von Bedeutung. Zum einen zogen mit den osteuropäischen Staaten viele Länder auf ihrem Weg „nach Europa“ an der Türkei vorbei, für die dieser Weg lange Zeit außerhalb jeder Diskussion stand. Zum anderen verweist die Vorgeschichte der Osterweiterung mit dem Appell an Europa auf ein besonderes Kommunikationsmuster, das für die Analyse der spezifischen Qualität und die Herausbildung europäischer Öffentlichkeitsstrukturen von zentraler Bedeutung ist. Dieser an anderer Stelle entwickelte Ansatz soll im Folgenden knapp erläutert werden, um anschließend die Besonderheit der Debatte um die Aufnahme der Türkei in die EU für die Frage nach der Herausbildung europäischer Öffentlichkeitsstrukturen analysieren und verorten zu können (Requate & Schulze Wessel, 2002). …