Gerhard Hajicsek & Wolfgang Monschein: Vorwort

Vorwort

Ja
Das ist jetzt
Der einzige Zweck

Alles
Um uns herum ist weg
Das wird alles
mitgezerrt“

Tocotronic: This Boy is Tocotronic
In: Tocotronic. Hamburg: Lage d’or 2002

Warum sollten wir uns beim Besuch einer Homepage in die zerstörte Bibliothek von Alexandria versetzt Vorkommen? Was ist das Zerstörerische am Internet? Was das Selbstzerstörerische am Fernsehen?

Manche mediale Produkte sind für die Gegenwart geschaffen. Warum? Weil sie immer am Puls der Zeit sind? Weil Aktualität höchste journalistische Maxime ist? Diese Fragen brechen sich bereits am Begriff „Gegenwart“.

Gegenwart soll innerhalb dieses Schwerpunktes als der vergängliche und in seiner Dauer schwer definierbare Moment, der die Zukunft von der Vergangenheit trennt, verstanden werden. Allen Medien wohnt die Dialektik von Dynamik und Vergänglichkeit inne. Aufgehoben wird die Dialektik dieser Begriffe im Terminus der flüchtigen Gegenwart.

Eine alltägliche Situation: Sie sitzen abends in Ihrem Wohnzimmer, im Fernsehen werden Nachrichten gesendet, gleichzeitig blättern Sie in der Zeitung. Eine interessante Meldung im Fernsehen veranlasst Sie dazu, Ihre Zeitungslektüre zu unterbrechen. Nachdem Sie gesehen und gehört haben, was Sie interessierte, wenden Sie sich wieder dem Printmedium zu und vertiefen sich wieder in die spannende politische Analyse, die Sie bis zur Unterbrechung beschäftigt hat. Fünf Minuten später blicken Sie wieder auf den Bildschirm und stellen fest, dass der von der Zeitung analysierte Politiker gerade in einem Interview Stellung zur aktuellen Situation nimmt. Leider haben Sie die erste Hälfte des Interviews durch Ihre Lektüre bereits versäumt. Ist es nicht ärgerlich, dass man beim Fernsehen so viel leichter den Faden verliert als beim Lesen einer Zeitung? Und vor allem, dass man keine Chance mehr hat, ihn wiederzufinden?

Flüchtigkeit begründet sich in diesem Beispiel durch Nichtwiederholbarkeit der Rezeption. Manche Medien, wie etwa Buch oder Zeitung, lassen eine wiederholte Rezeption zu, etwa durch Zurückblättern und nochmaliges Lesen von Nichtverstandenem. Andere Medien, wie etwa Fernsehen oder Radio, lassen der rezipierenden Person diese Chance nicht, da die Richtung und das Tempo der Rezeption fix vorgegeben sind; Rückgriffe auf bereits Gesendetes sind ebensowenig möglich wie das Überspringen von nichtrelevanten Inhalten.

Technische Fortschritte im Bereich der audiovisuellen Medien, hier im Speziellen der Videorecorder und das Tonbandgerät (leicht verfügbar und ökonomisch leistbar) bringen nicht mit sich, dass mittlerweile traditionelle Nutzungsformen von Fernsehen und Radio durchbrochen werden. Es kann nicht davon gesprochen werden, dass gerade Nachrichtensendungen aufgezeichnet und zum Zweck des besseren Verständnisses oder der kritischen Aneignung wiederholt abgespielt werden.

Weiters ist das Sichten von Inhalten bei Printmedien prinzipiell leichter als bei sequentiellen Darstellungsformen, da ein schnellerer und umfassender Zugriff auf alle Informationseinheiten möglich ist.

Zurück zum Beispiel: Da Sie das Interview teilweise versäumt haben, suchen Sie im Internet die Homepage der Sendeanstalt, die das Interview ausgestrahlt hat, auf Sie hoffen, dort Näheres darüber zu erfahren. Nach einigem Vor- und Zurückspringen auf der Homepage wollen Sie sich die Zusammenfassung des Gesprächs downloaden oder ausdrucken. Sie klicken auf den „Zurück“-Button Ihres Internet-Browsers und stellen zu Ihrem Arger fest, dass der von Ihnen gewünschte Inhalt bereits von der Homepage genommen wurde – etwa aus rechtlichen Gründen oder solchen der Aktualität.

Im Zusammenhang mit Homepages scheint ein neues Phänomen aufzutreten: Durch die Organisation dieser Medien können sich die gerade rezipierten Inhalte im Moment der Rezeption schon geändert haben oder verschwunden sein, nämlich dadurch, dass der Betreiber der Homepage diese im Moment des Abrufens verändert hat. Der Wissenschaftsbereich ist durch dieses Phänomen vor neue Probleme gestellt: So etwa vor jenes der Zitierbarkeit von Homepages. Der angeführte Inhalt kann schon zum Zeitpunkt der Publikation einer Arbeit nicht mehr in der zitierten Form aufgefunden und die Quelle somit nicht mehr überprüft werden. Auch die Angabe des Fundzeitpunkts eines Inhalts löst dieses Problem nur scheinbar, da es keine Stelle gibt, an der man den Inhalt einer bestimmten Homepage zu einem bestimmten Zeitpunkt abfragen kann. Hier zeigt sich die potentiell mögliche ständige Aktualität und permanente Aktualisierbarkeit von Internet- Medien nicht nur als Chance, sondern auch als Problem. Das Fernsehbild zerstört sich nur 25mal pro Sekunde, um Platz für ein neues Bild zu schaffen, Online-Medien tun dies in potentiell unendlich kleinen Zeiträumen. Damit wohnt diesen Medien ein prinzipielles Moment der Zerstörung inne, der Zerstörung von Erinnerung, aber auch der Zerstörung von Gegenwart zugunsten aktualisierter Gegenwart. Obwohl durch die ständige Aktualisierung und Veränderung der Inhalte eine intersubjektiv gemeinsame Rezeptionsbasis immer gefährdet ist, wird die Grenze, an der sie absolut wegbricht, wohl nicht erreicht werden, da die Homepages, die sich bereits zu Leitmedien entwickelt haben, schon aus ökonomischen Gründen unbegrenzt kleinen Aktualisierungsintervallen entzogen sind.

Schon die Produktion von Audio- und Videostreamsendungen ist zeitlich aufwändig, im Sinne der Multimedialitätsbestrebungen im Internet jedoch notwendig. Allerdings lassen gerade diese sequentiellen Darstellungsformen — wie oben erwähnt – bislang kein Hin- und Herbewegen in den Inhalten sowie kein Durchsuchen derselben zu. Das Versprechen der Interaktivität, das die Onlinemedien von Beginn an gegeben haben, wird auf diese Weise durch die Multimedialisierung, zumindest beim jetzigen Stand der Technik und der ökonomischen Nutzung, gebrochen.

Zuletzt sollte man nicht vergessen, dass Flüchtigkeit weder ein neues noch ein an bestimmte technische Voraussetzungen gebundenes Phänomen ist: Gerade der Archiv- und der Bibliotheksbereich zeigen, dass Flüchtigkeit, Vergänglichkeit von Informationen nicht a priori technisch bedingt ist. Auslesekriterien dafür, was gesammelt wird und was der Vergessenheit anheimfällt, sind immer auch, um nicht zu sagen: vor allem sozialökonomischer, machtpolitischer Natur. Man bedenke nur, wie lange es in der Geschichtsforschung gedauert hat, eine „Geschichte von unten“ zu schreiben.