Diotima Bertel & Julia Himmelsbach
“Von der Wissenschaft bis zum Alltagswissen, von der Wahrnehmung der Welt bis hin zur Erfahrung des eigenen Körpers, auf allen Ebenen sind wir nun technisch mittelbar Handelnde. […] Technologien sind nicht nur ausschlaggebend dafür, was wir wissenschaftlich wahrnehmen können und wie wir wahrnehmen, sie bestimmen zunehmend wie wir leben, wie wir kommunizieren und uns sozial verhalten, was wir hoffen können und was wir fürchten müssen.”
(Singer 2015, 7)
Wenn wir technisch mittelbar handeln, dann sind Technologien auch als (Kommunikations-)Medium zu verstehen. Nicht nur sind Medien und Informationen zunehmend digitalisiert (Hepp 2016, 228f ), nicht nur gewinnt computervermittelte bzw. digitale Kommunikation zunehmend an Verbreitung (z.B. Eurostat 2020), Ubiquität und Bedeutung, Technologien selbst werden zu Akteurinnen (z.B. Latour 2005) in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen. Entsprechend geht die aktuelle Medien- und
Kommunikationsforschung über eine trianguläre Beziehung zwischen Produktion, Text und
Publikum (Couldry & Hepp 2013, 193) und einer Vorstellung linearer Effekte hinaus, hin zu
einer umfassenderen Vorstellung von den Folgen der Einbettung von Medien und Kommunikationstechnologien in den Alltag (Couldry & Hepp 2013). Konzepte wie das der Mediatisierung widmen sich kritisch dem Verhältnis zwischen der Veränderungen von Medien und Kommunikation auf der einen und Veränderungen in Kultur und Gesellschaft auf der anderen Seite (Couldry & Hepp 2013). Daher muss sich die Kommunikations- und Medienwissenschaft mit Technik, Mensch-Computer-Interaktion (Strippel et al. 2018, 14f ) und digitalisierter Medienkommunikation auseinandersetzen (Hepp 2016, 233). Darüber hinaus manifestieren sich in unterschiedlichen Technologien auch Menschenbilder: Für wen wurde Technologie (nicht) entwickelt, welche sozialen Gruppen werden aus welchem Anlass und welcher Motivation durch Technik und Technologie als Nutzerinnen berücksichtigt, welche Normen sind in Technologien eingeschrieben, welche Vorstellungen des Menschseins, z.B. als rationale Akteurinnen oder als emotionale Wesen, werden imaginiert
und welche Folgen hat dies? Dabei müssen Facetten dessen beleuchtet werden, wie in einem historischen und sozialen Kontext situierte Innovationen und Technologien die Vorstellung dessen, was ‚das Menschsein‘ ausmacht, beeinfluss(t)en. Denn immer wieder werden über Technologien Vorstellungen von ‚dem Menschen‘ – die nur zu kurz greifen können wenn es um die Frage geht, was ‚die Natur des Menschen‘ ausmache – verhandelt.
In dieser Ausgabe von medien & zeit widmen wir uns den Vorstellungen von ‚dem Menschen‘ bzw. den Menschenbildern, die über Technologien kommuniziert werden, die in Technologien eingeschrieben sind und die durch Technologien auch hinterfragt und verändert werden. Denn Menschenbilder und Technik stehen in einem komplexen Wechselverhältnis, dass nur in ihrem historischen und sozialen Kontext begriffen werden kann. Diesem Anspruch und diesen Fragen möchten wir uns mit diesem Heft widmen und
sie aus unterschiedlichster (disziplinärer) Perspektive diskutieren. Technik und Technologie
möchten wir dabei bewusst breit definieren.
In ihrem Beitrag Was vom Transhumanismus übrigbleibt. Virus, Naturbeherrschung und Technikphilosophie widmet sich Mona Singer der Idee des Human Enhancement, die als Ansammlung von Konzepten in der „Bewegung“ des Transhumanismus die technologischen Verbesserung „des Menschen“ zum Ziel hat, eine ‚Weiterentwicklung‘ zu einer transhumanen und schließlich posthumanen Stufe. Sie kritisiert dabei aus technikphilosophischer Perspektive dieses Konzept, mit dem eine Grenze gezogen wird, die
medizinisch-technologisch zu sehen und immer gesellschaftlich im Zusammenspiel mit Gesundheitspolitik zu ziehen ist. Dies wird deutlich, wenn die Ideen von Human Enhancement heute zu Maßnahmen einer Gesundheitspolitik im sozialstaatlichen Rahmen werden. So bleibt von den transhumanistischen Zielen wenig bis gar nichts, wenn davon die medizinischen Ziele in sozialstaatlichen Kontexten abgezogen werden – außer Vorstellungen „liberaler Eugenik“, die neoliberal dort greifen, wo sozialstaatlich wenig ist. Im Anthropozentrismus des Transhumanismus scheitern aber auch die Naturbeherrschungsvorstellungen, wie Mona Singer am Beispiel der Coronakrise vor Augen führt: Im Transhumanismus wird die Evolution des Menschen durch Technik weitergetrieben, so die Wunschvorstellung. Unter Bezugnahme auf Übertragungswege von Tieren zu Menschen und umgekehrt, aber auch am Beispiel Klimawandel, zeigt sie, dass das vermeintlich problemlose Enhancing oder auch Dishancing – in der Essenz als Modifikation
– des menschlichen Körpers durch Medizin und durch ein demokratisch institutionalisiertes
Gesundheitswesen überflüssig ist. Gerade die aktuelle Pandemie zeigt die Grenzen der „Bewegung“ auf und macht deutlich, dass es andere Zugänge braucht.
Kevin Liggieri beschäftigt sich in seinem Beitrag Non-Linearity and the Problem of Formulizing „the Human“ dem für die Technikwissenschaft komplexen Problem der (Nicht-)Linearität, der Verbindung von Ordnung und Zufall, Formalisierung und Leben sowie Technik und Mensch. Unter Bezugnahme auf Entwicklungen der Technikwissenschaften
zeigt er auf, wie Nutzerinnen Formalisierungsversuchen unterzogen werden, denn in dem von den Technikwissenschaften problematisieren „Human Factor“ zeigt sich sich die Angst vor Unberechenbarkeiten, die u.a. in Form von Leistungs- schwankungen und Defiziten zum Tragen kommen. „Menschen als Regler [Human as Controller]“ werden seit den 1960er Jahren aber auch immer stärker mit nicht-linearen Verhaltensweisen zusammen gedacht. In diesem Sinne wird von der Technikwissenschaft erkannt, dass die einfache, lineare Formalisierung des Menschen in der Mensch-Maschine- Interaktion nicht mehr ausreicht – und dass die Berücksichtigung diskontinuierlicher, zeitvarianter und nicht-lineare Aspekte notwendig ist.
Einer praktischen Perspektive der Wechselwirkungen von Technologieeinsatz und der Rolle ihrer direkten und indirekten Nutzerinnen – nämlich dem Einfluss der (telegrafischen) Technik auf die Entwicklung der Presse und auf das Selbstverständnis der Zeitungsleserinnen – widmet sich Wolfgang Pensolds im Beitrag Die Jagd auf Hawley Harvey Crippen, oder: Die Entdeckung des Live-Moments. Dieser beschreibt anhand des ebenso fesselnden wie faszinierenden Beispiels der Berichterstattung über den mutmaßlichen Frauenmörder Hawley Harvey Crippenhg, wie die Rolle von Zeitungsleserinnen technologisch nachhaltig verändert wurden. So wurde durch
die Ausdehnung des Telegrafennetzwerks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zeitungen der großen Städte der westlichen Welt globale Reichweite verschafft. Die Einführung der kabellosen Telegrafie um 1900 verlieh ihnen überdies eine nie dagewesene Aktualität. Dadurch erhielten Leserinnen eine neue, aktivere Rolle, die sich nicht mehr darauf beschränkt, nachträglich von Geschehnissen in Kenntnis gesetzt zu werden, sondern aktiv an diesen Geschehnissen teilzuhaben noch während sie sich ereigneten.
Abschließend widmen wir uns – gemeinsam mit Manfred Tscheligi – in unserem Beitrag Questioning the User-Researcher Dichotomy: Situatedness of Knowledge and Power Structures in Research on Technology der impliziten Hierarchie, die in der Dichotomie zwischen Forschenden und Beforschten im Bereich der Technologieforschung steckt. Anhand Donna Haraways (1988) Konzept der Situiertheit von Wissen argumentieren wir für die Dekonstruktion dieser Dichotomie. Dadurch möchten wir zur erkenntnistheoretischen Diskussion im Bereich der Technologieforschung beitragen und jene Machtstrukturen und Hierarchien aufdecken, die der Nutzerinnenforschung inhärent sind und einen Reflexionsprozess auf methodologischer und erkenntnistheoretischer Ebene anregen,
um eine Grundlage für die Förderung von Nutzer*inneneinbindung und partizipativer Gestaltung zu schaffen.
Mit der vorliegenden Ausgabe soll ein Beitrag dazu geleistet werden, Perspektiven auf das
Zusammenspiel von Menschen- und Technologiebildern zu erweitern. Insbesondere kritische Blickwinkel, die auf theoretischen und historischen Entwicklungen fundieren und weder einer unreflektierten Technologie-Euphorie, noch einem Technikdeterminismus, Kulturpessimismus oder einer nostalgischen, rückwärtsgewandten vermeintlichen Utopie verfallen, können zu einem differenzierten Bild beitragen. Über Technologien werden Vorstellungen des Mensch-Seins kommuniziert, eingebettet in einem bestimmten historischen und gesellschaftlichen Kontext. Wir möchten mit diesem Heft dazu beitragen, diese Vorstellungen kontinuierlich kritisch zu beleuchten und aufzudecken, welche Normen über diese Menschenbilder transportiert werden.
Bibliografie
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