Editorial 2/2018 Thomas Ballhausen & Christina Krakovsky

Das digitale Zeitalter hat sich durchgesetzt, es dauert an. Der Wissenschaft begegnet das Digitale dabei, verknappt gesprochen, zumeist in drei Formen, die sich disziplinübergreifend finden lassen: in der Digitalisierung analoger Bestände, in der Erstellung digitaler Daten und in den neuen Möglichkeiten IT-gestützter Durchdringung digitaler Repositorien. Das Beforschen, Erschließen und Vermitteln von Quellen vor einem Horizont, der nicht mehr analoges Material, vornehmlich Gedrucktes, als notwendiges Zentrum bedeutet und eine veränderte Öffentlichkeit mitmeint, erzeugte und erzeugt insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften ein Bündel von Erwartungshaltungen gegenüber den Möglichkeiten digitaler Technologien, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Einmal mehr scheint sich Umberto Ecos titelspendendes Diktum von „Apokalyptikern“ und „Integrierten“ zu bewahrheiten: Da ist einerseits ein Raunen über die angeblich schier unüberwindlich scheinenden Hürden, die das Drohgespenst Digitalisierung mit sich bringt, zu vernehmen. Müssen nun etwa alle Sozial- und GeisteswissenschafterInnen ausgeklügelte Programmieraufgaben lösen? Kann die Masse an digitalen Inhalten überhaupt bearbeitet, sinnvoll vermittelt und auch langfristig bewahrt werden? Verstellt nicht die Auswahl dessen, was digitalisiert wird, den Blick auf die eigentlichen Bestände, erleben wir also einen verzerrten Eindruck davon, was tradiert und erhalten wird? Und wie können diese Inhalte wieder aufgespürt, rechtlich einwandfrei erschlossen und durchsuchbar gemacht werden? Woher die Ressourcen nehmen, um die täglich produzierten Massen an Digitalisaten und digitalen Inhalten feinsäuberlich zu ordnen, zu strukturieren und – so sie vorhanden sind – gemäß standardisierten Normen zu annotieren? Andererseits wird zugleich ein fröhliches Jauchzen über das Betreten dieses für die wissenschaftliche Bearbeitung nach wie vor als Neuland gesehenen Forschungsfeldes vernehmbar. Getragen von der Hoffnung auf präzise, angeblich auf Knopfdruck zu leistende Durchleuchtungen riesiger Datenmengen sowie auf vermeintlich mühelose und lukrative inter- und transdisziplinären Zusammenarbeiten, könnte man fälschlicherweise annehmen, mit der Digitalisierung sei die Arbeit ja schon so gut wie getan. Ähnliches ließe sich über die Öffnung der Wissenschaft und die direkte Einbindung einer großen Allgemeinheit durch partizipative Digitalisierungsprojekte sagen. Man denke auch an die Möglichkeit zumindest den zugänglichen Ausschnitt der (Alltags-)Kommunikation quer durch soziale Schichten, die sich in den Gefilden der social media tummeln, auszuwerten oder ArchivarInnen von der Last der knappen Raumressourcen durch digitale Speicherung zu befreien. Man denke aber auch an die Tradition medien- und kommunikationshistorischer Disziplinen, die gerade in der Handhabung mit zweifelhaftem oder unvollständigem Datenmaterial auf einen beträchtlichen Erfahrungsschatz rückgreifen können. Man denke an ihre Lösungskompetenzen, Rekonstruktionsstrategien und Reflexionsvermögen im Umgang mit der Auffindbarkeit und Flüchtigkeit von mitunter mangelhaften Quellenkorpora. Berechtigte Freude und honest mistakes scheinen, so der Gesamteindruck, gleichermaßen gut verteilt.

Die vorliegende medien & zeit Ausgabe Inmitten des Digitalen beschäftigt sich mit dem Für und Wider beider hier angedeuteter Seiten und bringt dabei programmatische Standpunkte als auch forschungspraktische Einsichten aufs Tapet: Welche theoretischen Grundgedanken gibt es dazu insbesondere in der Kommunikations- und Medienwissenschaft? Wie gehen ForscherInnen mit digitalisiertem Material und den Bedingungen ihrer Forschung um? Welche Herausforderungen stellen sich in der Forschungspraxis, insbesondere angesichts der Notwendigkeit zu einer produktiven Reflexion kollaborativer Praxen? Welchen Gewinn gilt es angesichts der neuen Möglichkeiten tatsächlich zu erwarten? Die notwendige Auseinandersetzung mit dem Digitalen und seinen Kontexten, das kann mittlerweile mit Gewissheit konstatiert werden, birgt zahlreiche einzurechnende, ja kritische Aspekte. So ist die Kommunikations- und Medienwissenschaft, und hier insbesondere die Mediengeschichtsschreibung, wohl gezwungen, will sie sich in diesem Feld bewähren, ihre Instrumente und Normen zu reflektieren und sich in Teilen wohl auch neu zu positionieren. Veränderungen meint das aber nicht nur auf der Ebene von Darstellungsformen wissenschaftlicher Ergebnisse oder der Aufwertung der herangezogenen Technologien, sondern auch auf der Ebene wissenschaftsstrategischer Modi oder des kulturellen Gedächtnisses. Da Daten, was auch, aber nicht ausschließlich für das Digitale zutrifft, einen beträchtlichen Wert in Verknüpfungen entfalten, zeigt sich für eine zukunftsgerichtete medienwissenschaftliche und -historische Arbeit die Notwendigkeit, Standards weiter auszubilden, ensemblehafte Infrastrukturen zu entwickeln und in der Forschungsarbeit Daten nach offenen ausgewiesenen Parametern zu sammeln, zu beforschen und kuratorisch sinnvoll zur Verfügung zu stellen.

Welche programmatischen Fragestellungen sich explizit für die historische Kommunikationswissenschaft im Bereich der Digitalisierung ergeben, zeigt der Kollektivbeitrag von Erik Koenen, Christian Schwarzenegger, Lisa Bolz, Peter Gentzel, Leif Kramp, Christian Pentzold und Christina Sanko. Anhand der akademischen Arbeit, Überlegungen und Erkenntnisse des Netzwerks „Kommunikationsgeschichte digitalisieren: Historische Kommunikationsforschung im digitalen Zeitalter“ nehmen sie theoretische Fragestellungen der Digitalisierung in den Blick, mit denen sich das Fach momentan konfrontiert sieht. Ihr umfassender Ansatz beleuchtet dabei Erkenntnisfokus, Gegenstandsbereich und theoretische Perspektiven, Methoden sowie Quellen.

Wie ertragreich konkrete Forschungen im Bereich der Digitalisierung und die ohne Frage geforderte transdisziplinäre Zusammenarbeit sein können zeigen die case studies von Claudia Resch sowie dem AutorInnentrio Christian Zolles, Laura Tezarek und Arno Herberth.

Die 1703 unter dem Namen Wien(n)erisches Diarium gegründete Wiener Zeitung steht im Fokus eines von Claudia Resch vorgestellten Forschungsprojekts, in dem Auszüge dieses Periodikums aus dem 18. Jahrhundert in computerlesbare Volltexte transformiert und annotiert werden. Thematisiert wird nicht nur die interdisziplinäre Zusammenarbeit von PhilologInnen und HistorikerInnen, sondern auch der partizipative Forschungszugang, der einer Vielzahl an Disziplinen und darüber hinaus Interessierten Mitsprache- und Gestaltungsmöglichkeiten verschafft. Digitale Praxen werden so mit Informationsstrategien und Inklusion im Sinne einer weitreichenden Nutzbarkeit verknüpft.

Eine lohnende Offenheit gegenüber digitalen Kulturtechniken beweisen auch Christian Zolles, Laura Tezarek und Arno Herberth in ihrer Beschäftigung mit den digital editierten Tagebüchern des österreichischen avantgardistischen Autors Andreas Okopenko (1930-2010). Die Beleuchtung des – auch auf Materialebene – vielschichtigen „Hypertext-Pioniers“ zeugt nicht nur von kreativem Umgang im digitalen Feld, sondern auch von Optionen ermächtigende Kommunikation im digitalen Bereich, im Gegensatz zu oft proklamierten Einschränkungen kulturpessimistischer Argumentationen wie der Übermacht von Algorithmen, zu installieren.

Thomas Ballhausen führt mit dem Essay Preservation im Zeitalter der Drohnen seine medienhistorische und -philosophische Auseinandersetzung mit dem Archiv fort. Bedingt durch die Kontexte der Digitalisierung und ihrer technischen Konditionen ist es dabei, so der Vorstoß, notwendig, die aus Gründen der Kritik an Progressionslogiken herausgelöste zeitliche Dimension im Sinne einer Sorge und Vorsorge zumindest partiell wieder zu reintegrieren. Diese Neubewertung kann aber nur unter bedachtsamer Bezugnahme auf philosophische Hypotheken gegenwärtiger Praxen funktionieren, eben weil historiografische als auch disseminative Prozesse des Archivs integrativ damit verkoppelt sind. Ballhausens Versuch versteht sich als Vorarbeit zu einer Archivpolitik, die den Faktor der Sorge neu bewertet, ethische Konzeptionen der Vermittlungsarbeit stärkt und Prinzipien der Affordanz für die zu bewahrenden Objekt mitdenkt.

Der Ausschnitt der aktuellen akademischen Beschäftigung, den die vorliegende medien & zeit Ausgabe aufmerksam betrachtet, vermag auf die intensive Tätigkeit – ob programmatisch oder forschungspraktisch – der Sozial- und Geisteswissenschaften mit den Spielregeln des digitalen Zeitalters hinzuweisen und kann als Deut dafür gelten, dass die Akademia wohl angekommen ist: Inmitten des Digitalen.

 

In der Rubrik Research Corner stellt Andrea Reisner einen Auszug Ihrer 2017 abgeschlossenen Disseration vor, in der die Germanistin Schreibszenen aus dem Roman Die Dämonen des Literaten Heimito von Doderer analysiert. Im Vordergrund steht die kritische Auseinandersetzung mit der in dem Werk beschriebenen Zeitungsredaktion sowie der Darstellung journalistischen Arbeitens.