Konrad Paul Liessmann: Kitsch

Einleitung:
Kitsch und materielle Kultur Wohl kaum ein Phänomen ist in der materiellen Alltagskultur so präsent und gleichzeitig so umstritten wie der Kitsch. Kaum eine Wohnung, kaum ein Garten, kaum ein Fernsehprogramm, kaum ein Weihnachtsmarkt, der frei wäre von dem, was gerne als Kitsch bezeichnet wird. Von den Gartenzwergen bis zu der mit Lichtgirlanden bekränzten Madonna, von den sanft rieselnden Schneekugeln bis zu treuherzigen Porzellanpudeln, von Statuetten antiker Göttinnen bis zum leuchtenden Gondoliere, von den röhrenden Hirschen bis zu den überwältigenden Sonnenuntergängen, von niedlichen Nippesfiguren bis zu schmalzigen Melodien, von tränenreichen Liebesbeziehungen in Seifenopern und Telenovelas bis zu den endlosen Orgasmen der neueren literarischen Softpornos reicht die Palette dessen, was sich zumindest dem Kitschverdacht aussetzt. Gleichzeitig gelten der Kitsch und das Kitschige als Ausdruck eines schlechten Geschmacks. Kitsch wird in der Regel nicht als Phänomen sui generis, sondern in Opposition zu Kunst gesehen. Die Formensprache des Kitsches hat gegenüber der von Kunst ein hohes Maß an Eindeutigkeit aufzuweisen. Sanfte, engelsgleiche Mienen, pinkfarbene Gewänder und Accessoires, gefaltete Hände, das Niedliche und Bunte, das Ungetrübte und Harmonische, eine idyllische Natur, das Glatte und Kindliche sowie eine Sentimentalität, die unmittelbar zu Herzen geht, sind die Ingredienzien, aus denen sich der Kitsch zusammensetzt. Die Funktion des Kitsches im Alltag ist dann ebenso klar wie umstritten: es geht um Verschönerung und Behübschung, um Entspannung und Trost, um die Evokation positiver Gefühle und um die Rührung, um angenehme, mit der Welt versöhnende Reize und das seelische Wohlbefinden. Wer sich dem Kitsch aussetzt oder diesem bewusst einen Platz in seinem Leben einräumt, muss sich deshalb nicht selten den Vorwurf gefallen lassen, sich mit falschen Tröstungen und Harmonien eine heile Welt vorzugaukeln, in der alles klein, niedlich, überschaubar, geordnet, harmonisch und rührselig sein darf, um die Härte, die Ungerechtigkeit und die Differenzen der Wirklichkeit nicht wahrnehmen zu müssen. Die Objekte des Kitsches werden deshalb auch gerne aus einer ideologiekritischen Perspektive kritisiert, als Ausdruck von Verlogenheit und falscher Idylle…