Alfred J. Noll: Zeitungen als Selbstverständigungsmedium einer Gesellschaft Plädoyer für die öffentlich-rechtliche Verfasstheit einer Zeitung

Freiheit der Presse, na ja. Doch Wahrheit der Presse zu fordern,
Hat sich, seh ich das recht, vor mir noch keiner getraut.
– Peter Hacks

I.

Die Geschichte des Zeitungswesens ist eine Geschichte versuchter Freiheit vom Staat: nicht Bevormundung, Zensur und dadurch gewährleistete Legitimationsarbeit für die bestehenden (staatlichen) Machtverhältnisse sollten sein, sondern Autonomie, Freiheit der Meinung und dadurch ermöglichte Selbstverständigung für eine in Entwicklung begriffene Gesellschaft. Diese Geschichte ist vorbei. Heute ist es gerade die Presse, die für Bevormundung, Zensur und Machtlegitimation sorgt.

Es ist Zeit, das Okular zu wechseln und die Realität ins Visier zu nehmen. Wir könnten dann, wenn wir die Augen offen behalten, zumindest dreierlei in Sichtweite bekommen: Massenmedien leisten einen gravierenden Beitrag dazu, große Teile der Bevölkerung vom Verständnis der politischen Mechanismen und von politischer Einflussnahme auszuschließen. Die liberale Unterstellung, nur durch unsere Medien würden öffentliche Debatten gewährleistet und auf diese Art würde der ständige Bezug aufs Gemeinwohl präsent gehalten oder sogar befördert, diese Unterstellung ist einfach falsch. Unsere Massenmedien sind Instrumente der Vereinfachung, der Desensiblisierung, der Personalisierung und der kontinuierlichen Leseentmächtigung – unsere Massenmedien sind Werkzeuge der Entdemokratisierung. Es ist eine Lüge, dass unsere Medien Instrumente wären, der informationsarmen und an politischer Orientierungslosigkeit leidenden staatsbürgerlichen Randexistenz zu gesellschaftlicher Sachkenntnis, politischem Urteilsvermögen und anschließender Mitsprachekompetenz zu verhelfen. Sie machen just das Gegenteil.

In jeder demagogischen Phrase muss, will sie Wirkung zeitigen, etwas Richtiges stecken, ansonsten das der Demagogie eigentümliche Falsche keine Adressaten finden würde. Die Zurschaustellung der Politik, ihre Porträtierung und ihre mediale Präsentation könnten zu kritischer Betrachtung und externer Kontrolle von Herrschaft sowie zur Selbst-Beobachtung der Gesellschaft führen – tatsächlich ist aber von einer derartigen Kontrollfähigkeit durch Medienkonsum nicht viel zu sehen; in dem Umfang, in dem sich die Politik den Medien andient, lässt die Kontroll- und Reflexionsleistung der Medien nach.

Und schließlich: Was ist denn die Demokratie, die angeblich auf der Freiheit der Presse gründet? Sie ist doch zunächst einmal nichts anderes als der ständige Versuch, durch Worte und Taten die Partizipation der Vielen an dem, was man als das Gemeinsame erkannt hat, zu fördern und zu kultivieren; und als Folge dieser Bemühungen sollte dann eine bestimmte Form institutionell verfestigter Partizipation möglichst vieler herauskommen. Teilnahme beschränkt sich heute freilich auf den Konsum der Medien und die jedes Jahrfünft erfüllte Bürgerpflicht der Kreuzesleistung – in immer zahlreicheren Fällen wohl kein Votum mehr für die politische Haltung einer bestimmten wahlwerbenden Gruppe, sondern ein Strafakt der politisch Enttäuschten gegen die Ungeliebten.

Das alles zusammengenommen und noch einiges mehr führt nicht eigentlich zu einem Bedeutungsverlust der Medien, sondern zu einer gravierenden Bedeutungsänderung der Medien: Wo vordem die Freiheit vom Staat die Möglichkeitsbedingung politischer Emanzipation durch Selbstverständigung des Publikums abgab, ist heute die grundrechtlich gewährleistete Freiheit der Presse und ihre gleichzeitige wirtschaftliche Angebundenheit an die Inseratenkunden zur unüberwindlichen Hürde für politische Emanzipation geworden.

Die Medien selbst könnten gegen diesen Missstand arbeitend für Einsicht sorgen, sie tun es aber nicht. Mediennutzung dient heute weniger denen, die von politischen Entscheidungen ausgeschlossen sind, vielmehr kommt die Nutzung der Medien fast nur jenen zugute, die entweder professionell oder ehrenamtlich ohnehin schon im politischen Entscheidungsprozess tätig sind; diese lassen sich dann durch Wahlen akklamieren oder durch großzügige Boni für ihre medial zur Schau gestellten „Leistungen“ belohnen. Zugute kommen die Medien denen, die bei der Mediennutzung wie in der tagtäglichen beruflichen und außerberuflichen Kommunikation am stärksten an Politik interessiert sind und als „Meinungsführer“ regelmäßig über politische Zusammenhänge kommunizieren. Eine die Teilhabe fördernde Wirkung haben Medien nur für diejenigen, die ohnedies schon am Spiel teilnehmen – für alle anderen wird oft nur das politische Schauspiel zur Darstellung gebracht und sorgt dann je nach Befindlichkeit für Heiterkeit, Frust oder Ekel. Aber schon der große Friedrich Austerlitz wusste: „Nicht nur die Presse, die es verdient, hat das Volk: die Presse, die es hat, will es auch.“

II.

Die Substanz der Demokratie besteht nicht in der Unabhängigkeit und Qualität der Medien, erst umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nur eine demokratische Gesellschaft kann unabhängige und qualitätsvolle Medien hervorbringen. Es sind eben nicht die oftmals kritisierten Sündenfälle des Medienkaufs, die unsere Gemüter erregen sollten (schlimm genug sind sie allemal), abstoßen sollte uns die nur von wenigen publizistischen Gipfeln und Erhebungen durchzogene Medienlandschaft selbst, und aufregen sollte uns ihre schier endlose Flachheit und die sie prägende Ausgesetztheit gegenüber den Kriterien der Betriebswirtschaft. In der Medienlandschaft zeigt sich bloß, was in unserer Gesellschaft selbst die Ursache hat.

Die von mir bekundete Hoffnungslosigkeit gründet in der hegemonialen Macht der Konservativen und Neoliberalen. Diese wollen dem flotten Unternehmergeist (und manche auch dem autoritären Staat) keine Hindernisse in den Weg legen. Sie wollen die gesellschaftlichen Individuen jenen Gesetzmäßigkeiten unterwerfen, die von eben jenem Unternehmergeist bestimmt werden. Die moderne Öffentlichkeit sollen wir uns so vorstellen, dass Medienunternehmen und die ihnen treu ergebenen Werbeagenturen mit ihrer „Inszinierungskompetenz“ dem Publikum Vorbilder, Images, vorgeben – und es soll dann ein Naturgesetz sein, dass hirnlose Nicht-Subjekte jenen Bildern blindlings folgen. Das erste, nämlich die massenmedial vermittelten Bilder und Sujets, sollen wir als „Selbstbeobachtung der Gesellschaft“ feiern; und das zweite, dass wir diesen Bildern folgen, wird dann als „Individualisierung“ und als „aktive, konstruktive Mediennutzung“ beschönigt. Wir können dieses Weltbild wissenschaftlich als unbegründet kritisieren, wir können es  politisch als falsch bekämpfen, aber wir können eine solche Sicht der Dinge natürlich auch ganz lebensnah als riesige Verarschung denunzieren.

III.

Nehmen wir die Realität selbst ins Visier: Märkte sind nicht demokratisch. In ihnen setzen sich die Starken durch, die Kapitalstarken. Immer gwinnt, wer sich als geschickter Rationalisierer erweist. Es siegen die Strategen des Ordinären und des Senationellen – aber niemals gewinnt das Publikum. Dieses darf und muss unentwegt Vorgegebenes und Vorgekautes kaufen. Natürlich, immer ist irgendein Gebrauchswert vorhanden – aber ob das Publikum sich langweilt oder verzweifelt herumzappt, das interessiert nicht. Was nicht gekauft wird, das wird nicht produziert. Und dies ist so sicher, wie etwas anderes, dass es nämlich einen demokratischen Prozess der Entscheidungs- und Kompromissbildung darüber, was produziert und konsumiert werden soll, nicht gibt. Wir leben im „Medien-Kapitalismus“.

Wer sich dagegen wehrt oder skeptisch wird, der wird als rückwärtgewandt denunziert. Wer die Sache so sieht, der wird als anachronistischer Vertreter der Aufklärung abgekanzelt. Und tatsächlich – es wird ihnen schon aufgefallen oder gar aufgestoßen sein – bin ich selbst der Überzeugung, dass es der wesentliche Charakter der Presse ist, nicht Gewerbe zu sein – und dieser Gedanke ist nun sicherlich kein übertrieben zeitgemäßer Gedanke.

Wenn die Presse „ihrem Charakter treu ist“, dann darf sie sich „nicht zum Gewerbe herabwürdigen“. Und es war der junge Karl Marx, der zu der einprägsamen Parole gefunden hat: „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein. Dem Schriftsteller, der sie zum materiellen Mittel herabsetzt, gebührt als Strafe dieser inneren Unfreiheit die äußere.“ Und dieser Strafe sieht sich die Presse heute auch ausgesetzt: Eine Presse, die sich nicht bezahlt macht, kann nicht existieren

Ich will Sie an dieser Stelle nicht mit Phantasien oder – horribile dictu – gar mit Visionen beschweren. Und dennoch darf ich Ihnen nicht vorenthalten, dass ich nach gut einem Vierteljahrhundert der Medienbeobachtung in diesem Land zur Überzeugung gekommen bin, dass es der öffentlich-rechtlichen Verfasstheit zumindest eines Printmediums in diesem Land bedürfte. Ich plädiere also für Freiheit durch den Staat.

Ich darf Sie aber gleichzeig beruhigen, ich weiß um die Einwände – und das parteipolitische Hickhack um den ORF füllt einen nicht mit Zuversicht. Und dennoch: Soll Presse ihren Nimbus als Bedingung der Möglichkeit permanenter Aufklärung und als Instrument der Selbstverständigung in einer aus vielerlei Gründen gespaltenen Gesellschaft behalten, dann müssen wir sie ermächtigen, sich radikal aus der kommerziellen Verfangenheit zu befreien. Wir müssen sie mit genügend Mittel ausstatten, um frei von Inseraten gute Arbeit machen zu können, wir müssen den Journalistinnen und Journalisten ein Redakteursstatut an die Hand geben, dass ihnen Widerständigkeit gebenüber den herrschenden Verhältnissen nicht nur ermöglicht, sondern sie nachgerade dazu ermuntert, und wir müssten ein derartiges Organ auf der notwendigen technischen Höhe derart als Konvergenzmedium ansiedeln, dass es als Bürgerinnenselbstverständigungmedium annehmbar und erlebbar wird. Ob das in diesem Land gehen kann, das weiß ich nicht – und es liegt auch nicht an mir, sondern an Ihnen!