Einleitung: „Wie viel wissen Sie? Testen Sie Ihre Allgemeinbildung“ forderte das Nachrichtenmagazin Focus seine Leser in der (bereits als Nr. 1/2001 erschienen) letzten Nummer des Jahres 2000 auf (Focus, Nr. 1 vom 30. 12. 2000, Titelseite), der Spiegel gab sich mit dem Titelthema „Jenseits des Wissens. Woran glaubt der Mensch?“ spirituell-besinnlich (Der Spiegel, Nr. 52 vom 25. 12. 2000, Titelseite), und bei der Süddeutschen Zeitung war „BSE-Krise rüttelt die Politiker auf‘ der Aufmacher (Süddeutsche Zeitung Nr. 300 vom 30/31.12. 2000, S. 1). Bild, immerhin, verkündete über dem Bruch den „Plug in eine neue Dimension“, gemeint war aber nicht eine Zeitenwende, sondern – ganz konkret – der Skispringer Martin („Adler“) Schmidt (Bild Nr. 305 vom 30. 12. 2000, S. 1). Ruhig ist es ausgeklungen, das zweite Jahrtausend nach christlicher Zeitrechnung, ruhig hat es begonnen, das dritte Jahrtausend in deutschen Redaktionen. Business as usual — ein Jahreswechsel wie andere auch, keine „Millennium“-Schlagzeilen, kaum Sondernummern (sieht man einmal von der Woche ab, die in einer „Doppelausgabe Weihnachten Neujahr“ ihre Leser unter der Schlagzeile „So lebt der neue Mensch“ auf eine „Expedition ins 21. Jahrhundert“ schickte (Die Woche, Nr. 52-01/2001 vom 28. 12. 2000)).
Wie viel heftiger war da doch Ende 1999 die mediale Inszenierung: Schon Monate zuvor wurde ein vergangenes Jahrhundert besichtigt, ein neues projektiert, ein Event vorauseilend zelebriert.
Wann soll man ein Kind zeugen, damit es zum Millenniums-Baby wird — also genau am 1. Januar 2000 zur Welt kommt? Wo wird das schrillste, das hipste, das mondänste Millenniums-Fest steigen? Wieso sollte man am Neujahrstag keine Flugreise machen, sich vorher mit ausreichend Bargeld und Lebensmitteln versorgen, warme Decken bereithalten? Oder: Welche waren die bedeutendsten Denker des zweiten Jahrtausends, wer die größten Künstler, was die wichtigsten Erfindungen? Welche Fußballer bildeten das Dream-Team des Jahrhunderts, wem gebührt der Spitzenplatz in der Rangliste der Filmstars oder Massenmörder? Und: Werden die Menschen im 21. Jahrhundert nur mehr per Videokonferenz und Internet kommunizieren? Wird die Brennstoffzelle den Individualverkehr revolutionieren, werden die Industriestaaten zu reinen Freizeitgesellschaften degenerieren? Wird die Menschheit das Weltproblem Hunger lösen oder sich kollektiv mit Gen-Food (BSE war damals in Deutschland wie in Österreich noch nicht so hoch auf der Tagesordnung) vergiften? Themen und Fragen wie diese beherrschten die Zeitungen und Zeitschriften; Rückblicke und Ausblicke, historische Rankings, lange Zeiträume umfassende Analysen, wissenschaftliche Visionen wie pseudowissenschaftliche Prophetien standen weit oben auf der Medienagenda. …