Petra Herczeg: Braucht der Journalismus einen Kanon? Über das sinnstiftende Potenzial journalistischer Leistungen

Einleitung: Das Wort „Kanon“ kommt aus dem Griechischen und diente ursprünglich zur Benennung einer Rohrart, „die zur Korb- und Messrutenherstellung und auch für Waagebalken verwendet wurde. Daraus leitete sich der aus Rohr gefertigte Stab, der Maßstab ab…“ (Korte,2002, S. 27). Am Anfang stand also ein – viel später heftig umfehdetes – Wort, das aus dem „technischen“ Bereich kam und vom griechischen Bildhauer Philoket als Leitwährung für die Darstellung der Proportionen von menschlichen Körpern genutzt wurde (ebd.). Und im 5. Jahrhundert v. Chr. hat der Lyriker Pindar Oden auf olympische Sportler verfasst und als erster den Gedanken der Unsterblichkeit des Menschen durch Poesie formuliert. Soweit ein an zwei historischen Anknüpfungspunkten abgesteckter Ursprung.

Unter dem Begriff „Kanon“ werden heute unterschiedliche Kanonformen und -arten subsumiert, die dafür verantwortlich sind, dass „Kanon“ – ausgehend von den eigenen Erfahrungen mit Lektürekanones in Schule und Universität – oft missverständlich interpretiert wird. Diese tradierten Vorstellungen von apodiktisch scheinenden Kanonbildungen und die folgenden Diskussionen verstellen möglicherweise die Sicht auf all das, was mit Kanonbildung konnotiert werden kann.

Ein Kanon ist mehr als die „Pflege von Lektüre“, ein Kanon ist vor allem ein fortwährender kommunikativer Aushandlungsprozess, der für eine Fachrichtung identitätsstiftende Funktionen erfüllen kann. Für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft würde dies bedeuten, dass die Leistungen des Journalismus in der Kommunikationsgesellschaft zusätzlich über die Journalisten und Journalistinnen und ihre Werke definiert werden.

Im Vordergrund der Journalismusforschung steht nach wie vor der nachrichtliche Journalismus, an den sich Qualitätsdiskussionen und Fragen der Entgrenzungsprozesse im Journalismus (Weischenberg, et al., 2006, S. 346-360) richten. Im Folgenden geht es aber weder um die Darstellung differenter Journalismustheorien, die unterschiedliche Systematisierungen nach sich zogen, noch um die damit verbundenen Journalismustraditionen, deren Bogen – salopp zusammengefasst – von den funktionalistischen, konstruktivistischen und kritischen Theorien des Journalismus beschrieben werden kann. Auch geht es nicht um einen „Rückfall“ oder eine „Rückbesinnung“ in Richtung eines normativen individualistischen Journalismusbegriffes (Stichwort: „journalistische Begabungsideologie“), sondern darum, inwieweit eine Kanonbildung im Journalismus möglich ist und welche Prämissen und Orientierungen hier bedacht werden müssen. Die Verbindlichkeit der Kanonisierung ergibt sich aus der Zugehörigkeit zu den entsprechenden Disziplinen. Anschauungsbeispiele, theoretische Entwürfe und Gegenentwürfe in Bezug auf die Kanonbildung finden sich in den anderen Wissenschaftsdisziplinen genug. Kanonbildung wird oft auch als Versuch gesehen, um als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen einen Orientierungsrahmen zu geben, der sich in einem fest umrissenen materialen Kanon fassen lässt. …