Rüdiger Brandt & Karl-Dieter Bünting: Journalisten im deutschen Mittelalter?

Einleitung:

Auf die Frage, was ein Journalist ist, antwortet die englische Wikipedia-Seite: „A journalist collects and disseminates information about current events, people, trends, and issues.“ Auf der deutschen Seite findet man: „Ein Journalist […] ist gemäß dem Deutschen Journalisten-Verband ,hauptberuflich an der Verbreitung und Veröffentlichung von Informationen, Meinungen und Unterhaltung durch Massenmedien beteiligt’“. Nach der englischen Definition wäre dann auch ein Geheimdienstler ein Journalist; nach der deutschen könnte man, je nach Auffassung des zweiten „und“, Peter Merseburger den Journalistenstatus absprechen oder ihn Mario Barth zuweisen. Unabhängig von der Dignität dieser Quellen machen die Akzente der Erläuterungen auf ein methodisches Problem aufmerksam: Ein Journalist gehört, da das Wort keine gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung ist, zu denjenigen Beschreibungsobjekten, die ihre Konkretisierung nicht in objektiver Form erfahren können, sondern deren Bedeutung erst in kulturell-gesellschaftlichen Diskursen hergestellt wird. Es gibt keine verbindlichen Definitionen, sondern nur gesellschaftliche Vorstellungen über das, was Journalisten ausmacht, und es gibt innerhalb des Berufsstandes Selbstbilder. Theoretischen Forderungen stehen bedauernde Bestandsaufnahmen der Praxis gegenüber (unabhängig vs. abhängig, wirkungsvoll vs. wirkungslos, kritisch vs. affirmativ, gebildet vs. zu wenig gebildet, mediale Kennerschaft vs. medialer Dilettantismus, ehrlich vs. unehrlich usw.). Auch Funktionen, die Journalisten zugeschrieben werden oder die sie sich selbst zuschreiben, sind solche kulturell-diskursiven Konstrukte. Selbst die Wissenschaft ist zerstritten – man vergleiche Baudrillards Diktum, Journalisten hätten geradezu die gesellschaftliche Aufgabe der Verhinderung von Kommunikation (Baudrillard, 1995).

Außen- und Selbstbilder entwickeln sich innerhalb des Verlaufs der Geschichte unter dem Einfluss verschiedener Rahmenbedingungen. So lassen sich phasenweise eher positive oder eher negative Einschätzungen feststellen. Ob es schon im Mittelalter Journalisten gegeben hat, lässt sich mithin abstrakt nicht beantworten: Da der Begriff, die Sache, jeweils synchron Produkt gesellschaftlicher Diskurse ist, kann der Begriff auch der Entstehung eines Terminus für die Sache prinzipiell vorausgehen; daher spricht das Fehlen des Wortes Journalist vor dem 17. Jh. noch nicht gegen eine Existenz dessen, was dieses Wort bedeutet, im Mittelalter. In der Journalismusforschung selbst ist die diskursive Komponente mittlerweile präsent und wird bereits in Lehrbücher aufgenommen (vgl. den Untertitel von Löffelholz, 2004).

Das immer noch zitierte Grundlagenwerk von Baumert (1928) unterscheidet in der Entwicklung des deutschen Journalismus vier Epochen. Die erste davon reiche bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts; Baumert nennt sie „präjournalistisch“ und sieht sie gekennzeichnet durch „eher sporadisches, grundsätzlich nicht berufsmäßig betriebenes Nachrichtenwesen“. Hier tauchen also einige der o.a. Kennzeichen auf; die Tätigkeit des Journalisten wird geknüpft an das Liefern von Nachrichten; diese Tätigkeit wird beruflich ausgeübt, und sie ist kontinuierlich. Durch die Markierung „bis Mitte 16. Jh.“ würde man auch das Mittelalter dieser präjournalistischen Epoche zuschlagen müssen; die Titelfrage dieses Aufsatzes wäre dann negativ zu beantworten. Dem steht gegenüber, dass der Terminus Journalist schon auf Mitglieder der schreibenden Zunft des Mittelalters angewendet worden ist. Wohl das erste Mal war das der Fall in Wilhelm Scherers Geschichte der deutschen Literatur (Erstaufl. 1883). Scherer klassifiziert damit für die Zeit vom Beginn der Völkerwanderung bis zum 10. Jh. eine Gruppe von Autoren, die er als „Sänger“, ab dem 9. Jh. als „Spielleute“ bezeichnet:

„… der berufsmäßige deutsche Dichter … war ein unsteter Sänger, der von Ort zu Ort ziehend sein Brot verdiente. Und wollen wir sein Wesen vollkommen scharf bezeichnen, so müssen wir ihn für den Journalisten seiner Zeit erklären. Denn der Journalist ist nicht an Feder, Tinte, Papier und Druckerschwärze gebunden. Journalist ist, wer von Zeit zu Zeit, in kürzeren oder längeren Pausen, das Publikum über wichtige Vorkommnisse der Gegenwart unterrichtet. Das Mittel, dessen er sich dabei bedient, ist heute die Zeitung; vor dreihundert Jahren war es die Flugschrift, vor sechshundert Jahren war es das Lied. Und wie vor sechshundert Jahren verhielt es sich auch vor zwölfhundert Jahren. Die wandernden Sänger, die von einem Fürstenhofe zum andern zogen und die neuesten Nachrichten brachten, können mit demselben Recht als Journalisten bezeichnet werden, wie die Beamten eines telegraphischen Büros oder die Redakteure und Korrespondenten einer Zeitung. […] Die Poeten sind die Organe der öffentlichen Meinung, und sie sind daher auch die Organe derer, welche die öffentliche Meinung zu beherrschen wünschen. […] Im 11. Jh. erlebt der Spielmann eine neue Metamorphose. Er ist noch immer wandernder Journalist. Aber er sucht nicht mehr bloß zu erheitern, sondern auch zu erheben.“ (Scherer, 1928, S. 44f, 48f)

Vom heutigen Forschungsstand aus ergibt sich vor allem ein Einwand: Für die Zeit, mit der Scherer sich beschäftigt, ist die Quellenlage reichlich dünn. Über die Lebensweise von Sängern und Spielleuten vor dem 12. Jh. weiß man nichts Konkretes;
die dem Spielmann zugewiesenen sozialen, bildungsbezogenen, künstlerischen Eigenschaften lassen sich für die genannten Zeiträume nicht hinreichend an Einzelfällen verifizieren; damit ist auch der Typus als ganzer nicht fassbar (zusammenfassend zuletzt Brandt, 2006, S. 9-49). Es bleibt also dabei: Kennzeichen eines Journalisten sind Produkte unter wechselnden Kriterien zustande gekommener, sich stetig wandelnder kultureller Konventionen. Gerade unter diskursanalytischem Aspekt ist aber auffällig, dass es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Grundbestand an Merkmalen von Journalisten zu geben scheint. Dazu gehören dann nun doch die auf den beiden Wikipedia-Seiten genannten Tätigkeiten des Sammelns und Verbreitens von Nachrichten; die Veröffentlichung von Informationen — die nicht als mit bloßer Verbreitung identisch gesehen werden kann; die zeitliche Aktualität der Berichtsgegenstände (current events); die Hauptberuflichkeit der genannten Tätigkeiten; die Einbindung der Tätigkeiten in den Bereich der Massenmedien. Davon erscheint schon bei Scherer das Kriterium Aktualität; an zusätzlichen, heute ebenfalls noch kursierenden Merkmalen werden geliefert die Mobilität und die Bindung an die jeweils zur Verfügung stehenden Medien; wichtig ist ferner der Hinweis auf soziale Unterschiede innerhalb der durch gemeinsame Funktionen gekennzeichneten Gruppe. Baumert schließlich trägt, wenn man das „eher sporadisch“ umkehrt, als Kriterium die Kontinuität bei.

Nutzt man diesen „Mindestbestand“ als Suchraster, stößt man nach Scherers hypothetischem „Spielmanna-Journalisten in der deutschen Literatur14 ab ca. 1200 auf einen Typus von Autoren, die nun in der Tat Eigenschaften, Arbeitsweisen, Themen und Funktionen aufweisen, auf die man heute trifft, wenn vom Journalisten die Rede ist. Es handelt sich um die so genannten Sangspruchdichter…