Editorial 4/2015 Die Zukunft von gestern

Seit rund drei Jahrzehnten verändert die Digitaltechnologie in ihrer ökonomisch induzierten Anwendung das, was man zwangsläufig unpräzise als „gesellschaftliche Kommunikation“ bezeichnen kann, dramatisch. – Allerdings hat das aus dem Englischen kommende Wort „disruptiv“, also zerstörerischer Wandel, damit im Zusammenhang erst in letzter Zeit Einzug in die deutsche Sprache gehalten. Aus der Not des Augenblicks heraus stellen sich viele in der Informations- und Kommunikationsbranche Beschäftigte die Frage, in welche Richtung die Entwicklung geht: Integriertes crossmediales Produzieren, „digital first“, Ende des Gedruckten – mit ihm zusammen vielleicht das Aussterben aller „Legacy-Medien“ mitsamt dem Journalismus, da „User“ den „Content“ aus ihrem jeweiligen Erlebnisbereich selbst „generieren“ und IT-Konzerne aus den jeweiligen „Clouds“ zielgruppengerechte „Feeds“ „kuratieren“. 
Die Vorhersagen differieren in Abhängigkeit vom Fokus der jeweiligen Darstellungen, den für die Zukunftsabschätzung eingesetzten Methoden und wohl auch, wie unterstellt werden darf, vom kultursoziologischen Milieu, aus dem heraus die Prognose gewagt wird. So fragte ein Team der Universität Toronto 2011 (Van Alstyne 2011) „What will our media and entertainment be like by 2020?“ In rund fünf Jahren werden wir wissen, welches dieser vier Szenarien, die in einer Mischung aus Delphibefragung und Focus-Gruppen zustande gekommen sind, realistisch war; oder möglicherweise keines davon (Boshafte Anmerkung: Vielfeldermatrices werden aufgrund ihrer dichotomen Anlage, die sich in einem Koordinatensystem mit zwei Gegensatzpaaren auch optisch schön darstellen lassen, immer wieder gern verwendet. Dass sich die Wirklichkeit immer auf zwei polare Positionen reduzieren lässt, wird dabei stillschweigend vorausgesetzt). In dieser Untersuchung wird von jeweils zwei gesellschaftlich möglichen Alternativen ausgegangen: langsame und staatlich regulierte versus disruptive Entwicklung bzw. korporativ/kapitalistische versus sozial/kommunitarische. Insofern könnte die Medienorganisation 2020 entweder von staatskapitalistisch agierenden Konzernen, von einem Kaleidoskop relativ kurzlebiger Startup-unternehmen geprägt sein, von einem Ökologieverständnis, das „slow media“ umfasst oder von einem internationalen Wettkampf der „Lords of the Cloud“.

Wie gesagt, in wenigen Jahren können wir – unter der Voraussetzung, dass wir uns noch an die Aussagen erinnern – über die Trefferquote dieser und anderer aktueller Studien über die Medienzukunft ein Bild machen.
Man kann allerdings auch heute schon einen Blick zurück werfen und sich fragen, wie frühere Prognosen der Kommunikationswissenschaft, gemessen an der heutigen Realität, abgeschnitten haben. Was wurde vor zwanzig und mehr Jahren richtig vorhergesagt und worin lag man komplett falsch? Was ist in der aktuellen Medienpraxis wichtig, wurde aber in vergangenen Zukunftsbeschreibungen gar nicht erwähnt? – Das ist das Anliegen dieses Heftes von medien & zeit.

Die Veränderung des „Medien-Ökosystems“ wie das Gerhard Rettenegger hier in seinem Beitrag m.E. zutreffend nennt, trifft die Kommunikationswissenschaft in mehrfacher Weise: Ihr Materialobjekt hat sich geradezu beängstigend ausgedehnt (Technik hat uns beispielsweise lange eher nicht interessiert, interpersonelle Kommunikation ebenso), ungelöste Verfahrensfragen fordern ihren Tribut in der Herangehensweise (etwa: lassen sich Funktionen gesellschaftlicher Kommunikation normativ oder nur analytisch bestimmen) und – ohne den Fragenkatalog hier auch nur ansatzweise ausgeschöpft zu haben – welche heuristische Position kann sich Kommunikationswissenschaft als Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme selbst zumessen?
Josef Trappel geht in seinem Beitrag auf die hier angesprochenen erkenntnistheoretischen Probleme ein. Ist Zukunft vorhersehbar, und würden Prognosen, sofern sie gesellschaftlich wirksam werden, die Entwicklung nicht eher beeinflussen und ihre eigenen Aussagen damit obsolet machen? Oder sollte man angesichts eines naheliegenden Spekulationsverdachtes kommunikationswissenschaftliche Prognosen besser gar nicht abgeben? Trotz aller Skepsis redet Trappel dem nicht das Wort.
Roman Hummel, Susanne Kirchhoff, Dimitri Prandner und Rudi Renger versuchen „Prognosen von gestern“ in Bezug auf Journalismus auf ihre Relevanz hin abzuklopfen. Das Ergebnis ist „durchwachsen“: Dort, wo die Entwicklung einem stetigen Verlauf gefolgt ist, wurden durchaus bis heute zutreffende Aussagen gemacht. Wo aber vor allem utopische oder dystopische Einstellungen „die Feder geführt“ haben, wirken die damaligen Erkenntnisse heute so unzeitgemäß wie die seinerzeitige Kleidermode.
Um Utopien und Dystopien als beeinflussende Wissenschaftstrends geht es vor allem bei Dimitri Prandner und Rudi Renger. Sie sprechen von einer „Veradornisierung“ der Medienanalyse in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. So konnte, dies der Befund, die zivilgesellschaftliche Aneignung neuer Medientechnologien nicht richtig in den Blick genommen werden.
Die zivilgesellschaftliche Nutzung neuer Medientechnik-Ressourcen ist denn auch das Thema von Gerhard Rettenegger. Ihm geht es dabei vor allem auch um die Bereitschaft der Journalistinnen und Journalisten, grundlegende Transformationsprozesse als solche anzuerkennen und für ihre eigene Arbeitspraxis positiv nutzbar zu machen.
Damit ist das Ziel, weshalb wir dieses Heft von medien & zeit geschrieben haben, mit umrissen: Wir wollten ein wenig zur Selbstreflexion hinsichtlich der Aussagen zur Veränderung des Medien-Ökosystems beitragen. Dem Team von m&z sei herzlich dafür gedankt, dass sie diese Idee akzeptiert und uns bei der Verwirklichung unterstützt haben. Frau Viktoria Hubner, Studienassistentin in der Abteilung Journalistik am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg, danke ich ganz besonders für ihre Arbeit beim Einrichten der Manuskripte.

Roman Hummel
im Namen aller an der Publikation Beteiligten

Bibliographie
Van Alstyne, G. (2011). 2020 Media Futures. Toronto. OCAD University